Wie wirkt sich Migration auf psychische Probleme aus?

Eine junge Frau, 22 Jahre, kommt zum ersten mal in eine psychotherapeutische Sprechstunde. Sie ist Migrantin der 3. Generation, ihre Großeltern kommen aus dem Iran. Sie hat bis vor kurzem Englisch und Geschichte für das Lehramt studiert. Sie war ein Jahr lang mit einem Iraner zusammen. Vor drei Monaten haben die beiden begonnen, ihre Hochzeit vorzubereiten. Das Brautkleid wurde gekauft, die Lokalitäten wurden reserviert. Plötzlich und für sie völlig unerwartet sagte der Mann, dass er sie doch nicht heiraten wolle, weil sie ihm »zu schwierig« sei.  Seitdem ist sie am Boden zerstört.

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Sie kann nicht mehr schlafen, ist bis halb fünf Uhr morgens wach und liegt dann bis sechs Uhr abends im Bett herum. Sie hat keine Lust mehr zu irgendwas, weder sich mit Freundinnen zu treffen noch auszugehen oder was auch immer. Mühsam schleppt sie sich zu ihrem Job als Bedienung in einem Restaurant.

Sie meint, vor der Trennung hätte sie ihren Mann »ziemlich genervt und immer an ihm herumgestänkert«. Hauptsächlich habe sie ihm vorgeworfen, dass er sich nicht genug um sie kümmere. Ihr nunmehr Ex-Verlobter ist ein aufstrebender Angestellter bei einer Investmentbank, bei der zwölf bis vierzehn Arbeitsstunden pro Tag Normalität sind. »Ihm geht es jetzt total gut, seitdem er mich los ist«, sagt sie.

Als sie noch zusammen waren habe ihr Ex sie gedrängt, ihr Studium kurz vor dem Abschluss aufzugeben. »Er meinte«, sagt sie, »an der Uni seien so viele Männer. Außerdem wollte er nicht, dass ich enge Hosen trage oder mit meinen Freundinnen ausgehe. Abends um zehn hat er mich immer angerufen und mich abgeholt, egal wo ich war.« Sie hat, ebenfalls auf Betreiben ihres Ex, ihre eigene Wohnung aufgegeben und lebt jetzt wieder bei ihrem Vater.

Erstaunlicherweise sagt sie das mit einem leisen Bedauern in der Stimme. Ich sagt: »Das hört sich für mich ziemlich gruselig an. Was hat dir eigentlich gefallen an ihm?« Sie: »Er war so beschützend und immer für mich da.« »Was heißt ›für dich da‹, sag mal ein Beispiel.« »Wenn ich zum Beispiel zum Arzt musste, hat er mich immer begleitet.«

Mir wird klar, dass sie in einer stockkonservativen Beziehung gewesen war. Damit hätte ich nicht gerechnet. Sie wirkt nicht so. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, ebenso ihre Eltern. Ihre Großeltern sind nach Deutschland gekommen als Ihre Eltern noch Kinder waren.

»Meine Eltern machen mir ständig Vorwürfe«, sagt sie, »weil ich selbst schuld wäre, dass mein Ex mich verlassen hat. Ich hätte meine Frauenrolle nicht erfüllt.« Ihre Eltern haben sich scheiden lassen und leben jetzt beide allein. Ich sage: »Man kann also eigentlich nicht sagen, dass deine Eltern das Thema Beziehungen besonders gut hingekriegt hätten.« Sie nickt. Dann weint und lacht sie gleichzeitig.

Sie ist stark verschuldet, besonders wegen der Hochzeitsvorbereitungen, die am Ende finanziell komplett an ihr hängen geblieben sind. Letzte Woche hat ihr Ex sie angerufen und sie gefragt, ob sie das Hochzeitskleide nicht kostengünstig zurückgeben wolle. Sie ist stinksauer und möchte es am liebsten verbrennen.

Ich frage sie: »Du warst ja in einer aus meiner Sicht überaus konservativen Beziehung. Ist das eigentlich deine Weltanschauung? Möchtest du so leben?« Sie: »Nein, natürlich nicht.« Sie weint. »Ich habe ihn geliebt“, sagt sie, „und ich dachte, er ändert sich, wenn wir erstmal verheiratet sind.« Da wird mir außerdem klar, wie jung sie noch ist.

Werner Eberwein