Wie sieht das Menschenbild der humanistischen Psychotherapie aus?

In der humanistischen Psychotherapie gehen wir davon aus, dass der Mensch nicht nur motiviert wird durch seine homöostatischen Grundbedürfnisse wie z.B. das Bedürfnis nach Schlaf, nach Essen und Trinken oder nach Temperaturregulation, die sich einregulieren um einen bestimmten Zielwert herum, sondern dass wir als Menschen vor allem durch sogenannte Wachstumsbedürfnisse motiviert sind, die auf fortgesetzte Weiterentwicklung hin ausgerichtet sind, z.B. das Bedürfnis nach Wissen, nach Selbstverwirklichung oder nach Sinn.

Wir gehen von einem bio-psycho-sozialen Menschenbild aus, d.h. wir sehen den Menschen sowohl als Naturwesen, also als Körper, als auch als soziales, gesellschaftliches, kulturelles, historisches Wesen und in seinem Erleben und Handeln als psychisches Wesen, wobei diese drei Ebenen fortgesetzt miteinander wechselwirken.

Wir erkennen an, dass der Mensch beeinflusst ist von seinen biologischen Trieben und seiner Lerngeschichte, von Einflüssen aus seinem Unbewussten und aus den sozialen Verhältnissen, von seiner Biografie und seinen Beziehungsmustern, aber wir bestreiten, dass diese Einflüsse ihn mechanisch determinieren, sein Erleben und Handeln also vorherbestimmen. Trotz all seiner physikalischen, biologischen, sozialen und historischen Bedingtheiten und Grenzen hat der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens die Möglichkeit, sich unter einer Vielfalt von Optionen wahlfrei zu entscheiden und damit sein Leben und in gewissem Umfang auch seine Lebensbedingungen aktiv zu gestalten.

Im Zentrum der humanistischen Psychotherapie steht daher das Bild vom mündigen Subjekt, das bewusst erlebt und wahlfrei handelt, und das durch existenzielle Entscheidungen sein Leben aktiv und kreativ gestaltet.

Wir sehen den Menschen also nicht nur kausal bestimmt durch Ursachen, sondern vor allem final bestimmt durch Gründe, also durch Absichten, Werte, Ziele und Sinnsetzungen.

Humanistische Psychotherapie ist weder eine Naturwissenschaft wie etwa sie Neurologie oder die Verhaltensforschung noch eine Geisteswissenschaft wie etwa die Soziologie oder die Kulturgeschichte, sondern eine Wissenschaft vom Subjektiven, genauer gesagt von den intersubjektiven Prozessen, die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Menschen als Subjekten auf den verschiedensten Ebenen befasst.

Daher ist für uns auch der psychotherapeutische Prozess etwas Intersubjektives, Kooperatives, Dialogisches. Die Therapie wird also nicht durch die Interventionen oder Verhaltensweisen des Therapeuten „gemacht“, sondern sie entwickelt sich als gemeinsamer Such-, Erforschungs- und Transformationsprozess, an dem beide, Patient und Therapeut, kooperativ beteiligt sind, der daher weder im Einzelnen planbar noch in seinem Verlauf vorhersehbar ist.

Eine wichtige Rolle spielt in der humanistischen Psychotherapie die Orientierung am unmittelbaren Erleben des Patienten. Wir arbeiten viel mit erlebnisaktivierenden Verfahren wie z.B. Rollenspielen, körperorientierten oder Trance-Methoden, in denen es darum geht, mit aktivierten Emotionen zu arbeiten, so dass man nicht nur „über“ etwas spricht, sondern das, worüber man spricht, auch unmittelbar spürt und wahrnimmt.

Ziele der humanistischen Psychotherapie sind:

  • die Erweiterung der Wahlfreiheit des Menschen,
  • die Entfaltung von latenten Potentialen (Ressourcen), die dem Menschen innewohnen,
  • die Integration von abgewehrten Anteilen und
  • die Orientierung des Lebens an einem persönlichen Sinn.

Werner Eberwein