Wie kommt man von Angst weg?

Oft fragen Patienten, die unter Ängsten leiden, die sie nicht verarbeiten können: „Wie komme ich von dieser Angst weg?“ Meines Erachtens ist die Idee „weg von“ hier nicht passend. Das ist so, wie wenn bei jemandem durch ein Unwetter sein Haus beschädigt wurde, und nun geht ein Riss durch die Wohnzimmerwand, und er fragt sich, wie er von diesem Riß „wegkommt“. Davon kann man nicht wegkommen, das muss stabilisiert werden. Und so ist es auch mit Angst.

Angst ist ein Abwehraffekt, der auf eine tieferliegende strukturelle Instabilität verweist.

Was bedeutet das?

Abwehraffekte sind Gefühle oder Zustände, die im Zusammenhang mit Abwehrprozessen (z.B. Verdrängung, Verleugnung, Spaltung) auftreten. Wenn jemand z.B. Hassgefühle verdrängt, dann kann es passieren, dass er eine irrationale Angst vor bedrohlichen Situationen entwickelt. Er hat seinen eigenen, abgewehrten Hass in die Außenwelt hinein projiziert, und sein eigenes, abgewehrtes Gefühl begegnet ihm nun von außen als bedrohlich. Oder nehmen wir an, jemand neigt dazu, andere Menschen verächtlich abzuwerten, was er aber an sich selbst nicht ertragen kann und daher in sein Unbewusstes hinein wegschiebt (verdrängt). Nun entwickelt er irrationale Ängste, von anderen abgewertet zu werden. In einem Abspaltungsprozess wird also etwas Unerträgliches zuerst aus dem Gewahrsein entfernt, prasselt dann aber unkontrolliert und scheinbar irrational auf das Ich ein (Freud nannte das „die Wiederkehr des Verdrängten“).

Wenn man nun in der Therapie mit dem Patienten Ängste in die Tiefe hinein erkundet, so findet man als deren Basis (quasi als die Angst hinter der Angst) eine Dynamik, die schwer in Worte zu fassen ist, weil sie sich unserem gängigen dualistischen Denken und unserer Subjekt-Objekt-Sprache erst mal entzieht. Ein technischer Begriff dafür wäre „Strukturverlust des Ich„. Es ist schwer, das in sich selbst wahrzunehmen oder zu beschreiben, aus dem selben Grund, wie es schwer ist, bewusst mitzuerleben, wie man einschläft. Einschlafen besteht ja gerade darin, dass das Bewusstsein schwindet – und das Schwinden des Bewusstseins kann das Bewusstsein nur bis zu einem bestimmten Punkt miterleben, danach ist es eben „weg“. Einschlafen ist eine sanfte und in der Regel angenehme Erfahrung von Ich-Verschwinden. Auch im meditativen Bereich oder in der Liebe gibt es Erfahrungen, in denen man das Gefühl hat, dass das Ich sich „auflöst“, aber auf eine schöne Weise.

Nun gibt es aber auch den Ich-Verlust als negatives, ja unerträgliches Erleben, in Form eines drohenden Zerschmettertwerden des Ich,

  • weil das Ich durch einen Mangel an Halt gebenden Beziehungen in der frühen Kindheit instabil ist,
  • durch einen Wegfall Halt gebender Bezüge oder
  • durch massive und nicht zu verarbeitende psychische Erschütterungen.

Hier ist das Ich von seiner eigenen Zerstörung bedroht. Das ist aber etwas, was derjenige, der es erlebt, schwer bewusst erfassen und in Worte fassen kann, vor allem wenn er gerade geschieht. Wie soll das Ich wahrnehmen und beschreiben, wie es selbst gerade instabil oder gar von seiner eigenen Auflösung bedroht ist? Das kann man nur schwer in seinem Innreren wahrnehmen und kaum mit Worten ausdrücken – und das macht das Ganze besonders bedrohlich. Subjektiv wird das Zerschmettertwerden des Ich empfunden wie der Untergang der Welt, denn wenn das Ich zerstört wird, dann geht im subjektiven Erleben des betreffenden Menschen die Welt zugrunde (ohne Ich keine Welt). Die Angst vor dem Ichverlust ist unvorstellbar groß.

Diese Form der Angst wird als „Fragmentierungsangst“ bezeichnet (Fragmentierung im Sinne von Zerstörung der Selbststruktur). Meines Erachtens ist sie der tiefste Kern nicht nur aller Ängste sondern von jeder Form von psychischem Leid. Sie liegt im Inneren all dem zu grunde, was an der Oberfläche als psychische oder psychosomatische Störung erscheint.

Fragmentierungsängste können nachhaltig nur in einer Mehrfachstrategie durchgearbeitet werden:

  • Der Patient muss in der Therapie so weit es seine psychische Stabilität zulässt die Fragmentierungsängste mit dem emotionale Rückhalt des Therapeuten durchleben, damit er nicht weiter gefangen ist von einer Angst vor der Fragmentierungsangst, die ihn zu unablässigen panischen Vermeidungsmanövern zwingt.
  • Der Patient muss innere und äußere Möglichkeiten suchen, sich selbst zu stabilisieren und sich auf eine Weise in seinen Beziehungen zu verankern, die ihm nachhaltig, nicht nur momentan, Halt und Stabilisierung gibt, wodurch sich seine Ich-Struktur allmählich festigt. Dafür ist eine dauerhafte und zuverlässige, Halt gebende Beziehung zum Therapeuten von entscheidender Bedeutung.
  • Er muss verstehen, was mit ihm los ist, also Begriffe, Umschreibungen, Symbole o.ä. für sein Erleben finden, die es ihm ermöglichen, zu kommunizieren wie es ihm geht, statt seine Ängste durch Vermeidung oder Kontrolle wegagieren zu wollen, was auf die Dauer nicht funktionieren kann.

Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, könnten Sie in meinem Buch „Humanistische Psychotherapie“ nachlesen. Darin ist die Theorie der Fragmentierungsangst als Ursprung von psychischem Leid ausführlich mit vielen Beispielen und therapeutischen Möglichkeiten dargestellt.

Werner Eberwein