Wie ist das Verhältnis zwischen Wahlfreiheit und Geworfenheit?

Existenzphilosophisch betrachtet hat der Mensch jederzeit die Möglichkeit, ja er kommt gar nicht darum herum, unter den zunächst bloß vorgefundenen Bedingungen seines Lebens durch fortgesetzte Wahl aus einem Spektrum von Möglichkeiten seine eigene Existenz zu gestalten und damit seine Existenzbedingungen mitzugestalten. Der Mensch ist geworfen in vielfältige Bedingungen, die er vorfindet, die er aber zugleich individuell und kollektiv reproduziert oder umgestaltet. Der Mensch ist bedingt und wahlfrei zugleich,geworfen in eine Welt, die er sich nicht aussucht, die er aber durch die Art, wie er sein Leben lebt, mitgestaltet und umgestalten kann (Bakewell 2016, Lévy 2002, Sartre 1993, Sartre 2000).

Beispiel: Eine Patientin arbeitet als Sachbearbeiterin in der Verwaltung und ist seit einigen Jahren die heimliche Geliebte eines verheirateten Mannes. Mit beidem ist sie unzufrieden. Ihren Beruf empfindet sie als öde, es fehlt ihr darin jede Herausforderung. Sie überlegt, noch einmal eine Ausbildung zu machen. Ihre Daueraffäre empfindet sie auf die Dauer als demütigend. Je nachdem, wie sie sich in beiden Lebensbereichen entscheidet oder nicht entscheidet, wird ihr Leben anders oder eben nach denselben Mustern weitergehen.

Auch wenn der Mensch durch biologische Triebe, sozial-ökologische Bedingungen und biografische Erfahrungen geformt ist, bleibt ihm immer ein Spielraum der Wahlfreiheit, den ihm niemand nehmen kann, und aus dem er sich nicht herauswinden kann.

Die obige Patientin könnte sich beruflich umorientieren oder nicht. Sie könnte sich aus ihrer Affäre lösen. Sie könnte von ihrem Affärenpartner eine Entscheidung fordern – oder alles so weiterlaufen lassen, wie es ist. Jede Wahl, ja sogar ein passiv bleibendes Nichtwählen, hat Folgen für das Leben der Patientin und das Leben derjenigen, die ihr nahestehen. Für den weiteren Verlauf als Ergebnis ihrer Wahlentscheidungen ist sie verantwortlich in dem Sinne, dass sie und ihre Mitmenschen mit den Folgen ihrer Wahlen leben müssen.

Natürlich kann der Mensch nicht alles wählen, was er gern hätte, sondern er kann nur unter den Optionen wählen, die ihm subjektiv zur Verfügung stehen. Psychotherapie-Patienten fühlen sich oft zunächst alternativlos in ihren Mustern gefangen und können selbst (von außen betrachtet) offensichtliche Alternativen nicht erkennen oder nicht realisieren. Den Patienten dabei zu unterstützen, seine Wahlfreiheiten zu erkennen und auszuweiten, ist ein zentrales Ziel der humanistischen Psychotherapie. In diesem Sinne ist der Mensch, auch wenn er unter vielerlei äußeren und inneren Bedingungen und Grenzen lebt, dennoch in jedem Moment ein wahlfreies Subjekt, selbst dann, wenn er sich seinen Lebensbedingungen oder seinen eigenen Mustern hilflos ausgeliefert fühlt, seine Wahlfreiheit nicht erkennt oder nicht wahrhaben will.

Patient und Therapeut sind, auch wenn sie diversen inneren und äußeren Bedingungen unterliegen, für die Gestaltung und Entwicklung des psychotherapeutischen Prozesses gemeinsam, wenn auch asymmetrisch, verantwortlich und zugleich Teil der interaktiven Eigendynamik des Prozesses.

Der Mensch als Subjekt ist kein „So-bist-du“. Er kann nicht wie ein Objekt, wie ein Stuhl oder ein Haus festgestellt, gewusst, begriffen, berechnet oder gekannt werden, denn dann erstarrt die Person zu einem Gegenstand. Sie wird verdinglicht und damit als Mensch in ihrer Wahlfreiheit und Individualität nicht mehr gesehen.

Der Mensch als Subjekt „ist“ nicht so oder so, er ist kein festgelegtes, bleibendes Ding, vielmehr „setzt“, also bestimmt er in fortgesetzter, lebenslanger Wahl immer wieder, wie er ist und wer er unter den gegebenen Bedingungen sein will. Damit reproduziert oder verändert er auch seine Existenzbedingungen, auch dann, wenn er entscheidet, mit dem Strom zu schwimmen und so zu leben, wie es von ihm erwartet wird.

Die Möglichkeiten, das individuelle Leben selbstbestimmt zu gestalten sind zurzeit in den westlichen Industrienationen bei allen Zwängen und Beschränkungen, denen wir unterliegen und bei aller Begrenztheit unseres Einflusses auf soziale und vor allem auf globale Bedingungen wohl so groß wie noch nie zuvor in der Geschichte.

Zugleich kommt der Patient ja gerade deswegen in die Psychotherapie, weil er sich psychischen Bedingungen ausgeliefert fühlt, die sich seinem willentlichen Zugriff entziehen. In diesen Bereichen unterliegt er Zwängen, Vermeidungen und emotionalen Dysregulationen, die er als unausweichlich erlebt, weil er aversive Empfindungen vermeidet, die er als unerträglich erlebt.

Es wäre zu einfach, ein solches Gefangensein in den Mustern der eigenen Psyche im Sinne von Sartre auf einen „Selbstbetrug aus Angst vor der Freiheit“ zu reduzieren (Sartre 1993). Es handelt sich um Zustände der Hilflosigkeit angesichts überwältigender Verzweiflungsgefühle, die für den Patienten ohne psychotherapeutische Unterstützung nicht auszuhalten und daher nicht handhabbar oder verarbeitbar sind.

Es ist einer der schwierigsten Aspekte psychotherapeutischer Arbeit, die Selbstschutzmuster des Patienten, die sein Leid aufrechterhalten, infrage zu stellen, um sie einer Verarbeitung und Transformation zugänglich zu machen, und zugleich dafür zu sorgen, dass der Patient nicht von unverarbeitbaren Emotionen überschwemmt wird, was im Extremfall zu dissoziativen Reaktionen, zu Therapieabbrüchen oder zu selbstschädigendem Verhalten führen kann.

Werner Eberwein