Wie hält man das eigentlich aus als Psychotherapeut?

Ziemlich oft werde ich von Freunden und Bekannten gefragt: „Wie hältst Du das eigentlich aus, wenn Dir den ganzen Tag Leute ihre Probleme erzählen?“ Nicht umsonst nannte schon Sigmund Freud unsere Profession „diesen unmöglichen Beruf“. Was für die meisten Menschen ein intimer Aspekt naher persönlicher Beziehungen ist, nämlich einem anderen Menschen etwas anzuvertrauen, das einem auf dem Herzen liegt und was sie tief im Inneren bewegt, ist das, womit sich Psychotherapeuten beruflich beschäftigen.

Für mich ist der Beruf des Psychotherapeuten nicht etwas, das man als bloßen Job ausüben könnte, quasi nach Handbuch oder als reine Anwendung welcher Techniken auch immer (obwohl das an vielen Unis und in vielen Ausbildungen heute leider so gelehrt wird). Für mich geht es in der Psychotherapie um etwas zutiefst Menschliches, also um Tiefenbereiche der Begegnung, in denen Menschen sich weit öffnen, und gerade das Sich-öffnen-Können, das Sich-Anvertrauen, ist es, was heilt, mehr als alle Techniken und Konzepte. Und das erfordert einen Menschen als Gegenüber, der als Person anwesend und spürbar ist. Ein erfahrener Therapeut hat und braucht viel theoretisches Wissen und technische Kompetenz in seinem Hinterkopf, aber im Umgang mit dem Klienten arbeitet er aus seinem Herzen heraus, wenn das, was er tut, nachhaltig in der Seele heilend wirken soll. Meines Erachtens ist Therapie als bloße Technik, ohne Herz, ein Teil der Krankheit und nicht der Heilung. Die Bereitschaft, im Gefühl mit dem Klienten zu sein, selbst in den Tiefen seiner Verzweiflung und Zerrissenheit, ist entscheidend für Heilungsprozesse – und das ist alles andere als leicht.

Auf der anderen Seite ist es natürlich nicht einfach ein persönliches Gespräch, was da geschieht, sondern auch eine Dienstleistung, und dafür erhält der Therapeut ja auch sein Honorar. (Es ist sicher etwas dran, wenn manche Menschen sagen: „Wenn die Beziehungen in Ordnung wären in unserer Welt, bräuchte es keine Psychotherapeuten“ – aber leider sind die Beziehungen oft nicht in Ordnung.)

Das nahe empathische Begleiten und Präsentsein als Person bei gleichzeitiger technischer Kompetenz und klarer professioneller Abgegrenztheit stellt besondere Anforderungen an den Psychotherapeuten, und es setzt ihn besonderen Belastungen aus. Es erfordert viele Jahre der Ausbildung, Eigentherapie, Supervision und Weiterbildung, um in der Sitzung ganz da zu sein für und mit dem Klienten, aber den Schmerz des Klienten nicht mit sich zu nehmen, also mit dem Klienten zu fühlen, aber nicht mit ihm zu leiden.

Dieses Gleichgewicht muss immer wieder erarbeitet und stabilisiert werden. Daher braucht ein Psychotherapeut ständige Weiterbildung und in seinem privaten Leben tragende Beziehungen, lebendige Freundschaften, Freude bringende Betätigungsfelder, ausreichend Erholungsphasen und eigenständige Genussbereiche, in denen sich gleichsam sein „Energiesystem“ regulieren kann.

Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, könnten Sie die Bücher von Irvin Yalom oder mein Buch „Humanistische Psychotherapie“ lesen.

Werner Eberwein