Wer ist David Schnarch?

David-Schnarch

David Schnarch (*1946) war Professor für Urologie in Louisiana/USA und ist heute leitender Direktor des Marriage & Family Health Center in Colorado/USA. Er ist der z.Z. wohl bekannteste Paar- und Sexualtherapeut der Welt.

Am 9./10. September 2015 hatte ich (Werner Eberwein) die Gelegenheit, David Schnarch und seine Arbeit in einem von der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK) organisierten Workshop an der Freien Universität Berlin persönlich kennenzulernen. Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung des Workshops.

Schnarch beschäftigt sich vor allem mit dem Problem des mangelnden bzw. abnehmenden sexuellen Verlangens in langfristigen Paarbeziehungen. Seine Hauptthese ist, dass dessen Ursache in einem „niedrigen Differenzierungsgrad“ der Partner liegt (Erklärung siehe unten). Daher müsse die Fähigkeit der Partner, sich zu „differenzieren“ in der Sexual- und Paartherapie erhöht werden. Seinen Ansatz nennt er „Crucible“-Ansatz (von engl. crucible: Schmelztiegel, Feuerprobe). Die Partner müssen mit ihren jeweiligen „Zwickmühlen“ konfrontiert werden, um durch eine existenzielle Krise hindurch miteinander neue Wege der Beziehungsgestaltung zu entwickeln. Voraussetzung dafür und zugleich Ziel dessen ist ein „selbstbestätigendes Selbst“, das sich also nicht durch Fremdbestätigung stabilisieren muss. Intimität ist nur durch Selbstrespekt und Respekt für den Partner möglich.

Schnarchs Kritik an der klassischen Paar-und Sexualtherapie

In der klassischen Sexualtherapie z.B. nach Masters und Johnson und später z.B. nach Helen Singer-Kaplan wird das Verlangen nach Sex im Kern als physiologischer, biologischer Trieb verstanden, und der Fokus der Therapie wird auf die Empfindungen der Partner gelegt, was jedoch, so Schnarch, zu einer „Zerstörung der Intimität“ führt. Die klassische Paar-und Sexualtherapie läuft letzten Endes auf eine „Bypass-Therapie“ hinaus: „Wenn ein Partner den anderen nicht mehr mag, soll er sich auf seine Empfindungen konzentrieren, damit die Sexualität wieder funktioniert“.

Im klassischen Verständnis taucht der Begriff des Verlangens entweder gar nicht oder als etwas auf, das nur unmittelbar vor dem Sex eine Rolle spielt. Sexuelle Schwierigkeiten werden auf Faktoren wie antisexuelle religiöse Erziehung, unbewusste Fixierungen und Traumata bei einem Partner oder beiden, Zerrüttung der Liebe oder mangelnde sexuelle Passung der Partner zurückgeführt. Diese pathologisierenden Erklärungen basieren auf einer biologischen Triebtheorie und einer Konzeption von Erotik als Mangelbedürfnis „aus einer Leere heraus“. (Dabei ist nicht nur das unmittelbare Sexualbedürfnis entscheidend, sondern auch das Bedürfnis nach Bestätigung spielt eine Rolle.) Ziel ist im Wesentlichen der Orgasmus beider Partner.

Dieses Therapiekonzept ist im Kern nicht-personal. Als entscheidender Sex-Killer wird die Angst verstanden, die daher in der Sexualtherapie (beispielsweise durch Desensibilisierung) reduziert werden muss, was aber, so Schnarch, nicht funktioniert.

Ein zentrales Instrument klassischer Sexualtherapie ist das Verbot des Geschlechtsverkehrs des zu behandelnden Paares durch den Therapeuten um die Anspannung und den Druck des Paares zu reduzieren, was jedoch ebenfalls nicht gut funktioniert (vor allem weil die Partner natürlich wissen, dass das nur eine vorübergehende Regelung ist). Der Therapeut erscheint als kompetenter Lehrer, der die Sexualität des Paares durch spezielle Verhaltensanleitungen zu verbessern sucht. Wenn dies nicht funktioniert, wird das auf „Widerstand“ des Paares oder eines der Partner zurückgeführt.

In der Regel wird der Partner mit dem geringeren sexuellen Verlangen (das ist – zumindest bei jüngeren Paaren – meistens die Frau) als gehemmt und damit als das primär zu behandelnde Problem definiert. Dieser ganze Ansatz ist einseitig und führt häufig zu einer mangelnden Therapiemotivation besonders bei den Partner mit geringerem sexuellen Verlangen, weil er sich stigmatisiert und pathologisiert fühlt.

Intimität und Verlangen

Der zentrale Begriff der Paar- und Sexualtherapie nach der David Schnarch ist der Begriff des Verlangens. Sexualtherapeuten sind häufig mit dem Problem konfrontiert, dass es in einem Paar oder bei einem der Partner an Verlangen mangelt, ohne dass aber im physiologischen oder psychopathologischen Sinn eine individuelle sexuelle Funktionsstörungen vorliegt.

Was sich jeder Partner eines Paares wünscht, ist, als Mensch vom andern gewollt und begehrt zu werden. Schnarch legt daher den Fokus nicht auf die biologische Erregung, sondern auf die Beziehung zum Partner. Intimes Verlangen ist das Begehren dieser speziellen Person aufgrund einer freien Wahl, nicht aufgrund eines biologischen, sondern aufgrund eines physiologischen UND psychologischen Begehrens. Schnarchs Konzept von Sexualität ist ein humanistisches, das das spezifisch Menschliche und nicht das Animalische der Sexualität in den Vordergrund stellt. Verlangen ist etwas Durchgängiges, immer schon Vorhandenes und immer Gegenwärtiges, das nicht nur unmittelbar vor dem sexuellen Akt vorhanden ist.

Viele Menschen in Partnerschaften haben Angst davor „Wollen zu wollen“, denn wenn sie ihre Partnerin oder Ihren Partner begehren, fühlen sie sich von ihm oder ihr abhängig. Reife menschliche Sexualität ist dagegen ein „Verlangen aus einer Fülle heraus“. Es ist der Wunsch, sich verströmen und verschenken zu wollen. Es wird im Laufe der Beziehung und im Laufe des Lebens nicht geringer sondern größer. Ziel von Schnarchs Sexualtherapie ist es, dem Paar zu helfen, an und durch seine sexuellen Probleme im humanistischen Sinn zu „wachsen“.

  • Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Prozess. Wenn es nicht zum Glück des anderen beiträgt, ist es keine Liebe.“
  • Liebe bedeutet, das Verlangen des anderen gleichwertig mit dem eigenen (aber auch nicht wichtiger als dieses) zu betrachten. … In einer Partnerschaft muss man eine Menge aufgeben.“
  • Es ist auch Missbrauch, dem Partner den Sex vorzuenthalten, den er möchte.“ (Ich würde hier nicht von Missbrauch, sondern von Ignoranz sprechen, W. E.).

Viele Menschen (auch Therapiepatienten dem Therapeuten gegenüber) haben Angst, anderen Menschen (auch ihrem Partner, auch ihrem Therapeuten) mitzuteilen, dass sie sexuelle Probleme haben, aus der Angst heraus, als unzulänglich zu gelten oder sich so zu fühlen. Selbst offensichtliche sexuelle Schwierigkeiten werden daher selbst in langfristigen Einzelpsychotherapien vom Patienten oft nicht aktiv explizit thematisiert.

Nach Schnarch ist der Orgasmus nicht der Maßstab für sexuelle Befriedigung, sondern „die Entwicklung des sexuellen Potenzials“. Dieses nimmt mit dem Alter nicht ab, sondern vielmehr zu. Der Fokus der Therapie liegt auf der systemischen Interaktion der Partner, „ihren Reaktionen und Gegen-Reaktionen“. Ziel ist personaler, dialogischer Sex. Das setzt die Fähigkeit und Bereitschaft der Partner voraus, Anspannung, Druck und Angst auszuhalten. Spannungstoleranz ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel einer lebendigen, auf Wachstum hin angelegten Sexualität. „Sex findet ja auch nicht in Entspannung statt, sondern in einem Zustand hoher Erregung.“

Das sexuelle „Repertoire“ eines Menschen und seine Grenzen (also was er sexuell gerne tut oder bereit ist zu tun) ist in seinem Selbstbild verwurzelt. Beispielsweise kann die Mehrheit der Frauen einen Orgasmus beim Verkehr nur durch zusätzliche klitoriale Stimulation erreichen, was einfacher ist, wenn sie beim Sex oben und der Mann unten ist. Diese kann jedoch in manchen klassischen Paarbeziehungen die Selbstbilder und die Hierarchie innerhalb des Paares infrage stellen. Auch die Sorge um das Körperbild (Fett, Falten, Zellulitis, mangelnde Gewebestraffheit etc.) spielt eine erhebliche Rolle bei einem Mangel an sexueller Experimentierfreude.

In Schnarchs systemisch-interaktiver Sichtweise gibt es immer einen Partner mit höherem Verlangen (zumindest bei jüngeren Paaren häufig der Mann) und einen mit geringerem Verlangen (häufiger die Frau). Das sei auf beiden Seiten zunächst einmal nicht pathologisch, sondern unvermeidlich. Es handelt sich um eine relativen Position innerhalb eines interaktiven Systems. Mit anderen Partnern oder im Laufe der Zeit kann sich dieses Verhältnis verändern oder umkehren. Erstaunlicherweise mag der „lower desire partner (LDP)“ Sex oft mehr als der andere, weiß mehr darüber und hat auch in seinem Leben schon mehr Sex gehabt als der „higher desire partner (HDP)“.

Der Partner mit dem geringeren sexuellen Verlangen kontrolliert den Sex de facto, ob er das nun will oder nicht und ob er davon letzten Endes etwas hat oder nicht. Auch dies ist zunächst nicht pathologisch, sondern eine unausweichliche Folge unserer humanistischen Beziehungsregeln, die darauf basieren, dass ein sexuelles „Nein“ akzeptiert werden muss („im Unterschied zu den Gorillas“). Der Partner mit dem geringeren Verlangen kontrolliert de facto auch das Selbstbild, die Vorstellung von der eigenen Attraktivität, das Selbstbewusstsein und den Selbstwert des Partners mit dem höheren sexuellen Verlangen. Die Beziehung sortiert sich um diesen Unterschied herum, aus dem früher oder später unweigerlich hierarchische Machtverhältnisse entstehen.

Daraus entwickelten sich früher oder später fordernde aggressive Angriffe und Problemzuweisungen durch den Partner mit dem größeren sexuellen Verlangen (z.B. „Du bist kalt und prüde!“) sowie defensive Rückzüge und Gegen-Anklagen von Seiten des Partners mit dem geringeren sexuellen Verlangen (z.B. „Du setzt mich unter Druck, dann kann ich gar nicht mehr!“). Bei vielen Paaren eskaliert das im Laufe der Zeit, spitzt sich zu und führt zu einer Abnahme bis hin zum völligen verschwinden von Sexualität und schließlich zu einer Abnahme des sexuellen Verlangens dem Partner gegenüber.

Differenzierung, das Selbstbild, die Zwickmühle und das emotionale Patt

Die grundlegende Ursache einer solchen Negativentwicklung ist, dass das, was das Paar (nicht nur, aber auch) sexuell miteinander lebt, sich auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ reduziert, also auf das, wozu keiner von beiden „nein“ sagt, was keiner von beiden beispielsweise als „eklig“ oder „pervers“ empfindet oder bezeichnet. „Sex besteht aus Überresten“, also aus dem, worüber sich beide Partner einig sind. So entsteht früher oder später sexuelle Langeweile.

Der Grad der Differenzierung bestimmt, wie nah man jemandem körperlich und emotional kommen kann. Wenn die Nähe größer ist als die Differenzierung, entstehen Probleme, insbesondere Gefühle von Eingeengtsein und Verlassenheitsängste.

Wenn einer der beiden Partner etwas Neues vorschlägt, wird der andere Partner das häufig nicht tun wollen. In langfristigen Paarbeziehungen entsteht Neues, so Schnarch, niemals aus Übereinstimmung, sondern wird immer einseitig eingeführt. „Der Status quo kann nur aufrechterhalten werden, wenn beide sich einig sind. Ein Partner kann immer den Status quo verändern. Daraus entsteht oft zunächst ein Machtkampf mit Durchsetzungsversuchen und Verweigerungen und schließlich häufig eine „emotional festgefahrene Beziehung„, in der schließlich das Verlangen kollabiert.

Die Befreiung aus dieser „Zwickmühle“ besteht darin, dass das Paar lernt, bzw. bereit sei, Anspannung und Druck auszuhalten, denn der beschriebene Konflikt ist im Prinzip nicht zu vermeiden und von Anfang an in die Beziehung eingebaut.

Das grundlegende Dilemma in einer menschlichen Paarbeziehung kann man folgendermaßen formulieren: „Ich möchte mit dir zusammen sein, aber sag du mir nicht, was ich tun soll!“ (in Kindersprache ausgedrückt: „Du bist hier nicht der Bestimmer!“)

Die Selbstentwicklung eines Kindes beginnt mit einem „gespiegelten Selbst„: das Kind braucht einen Bezug auf andere Menschen (zuerst die Eltern) um zu spüren, wer es ist. Ein Mensch mit einem gespiegelten Selbst braucht es zur Stabilisierung seines Selbst, gemocht und von anderen bestätigt zu werden. „Ein stabiles Selbst entwickelt sich aber nicht durch Gemochtwerden, sondern durch innere Konflikte ohne äußere Bestätigung, also nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen im Fehlen von Bestätigung.“

Das Differenzierungsmodell der Paar- und Sexualtherapie nach Schnarch geht von einem grundsätzlich anderen Paradigma aus als das herkömmliche, bindungsorientierte Modell. In Letzterem darf die Bindung des Paares keinesfalls bedroht werden, vielmehr besteht das Ziel der Therapie darin, diese zu stabilisieren und zu intensivieren. In Schnarchs Differenzierungsmodell wird die Bindung des Paares herausgefordert.

Differenzierung bedeutet dabei nicht ein Auseinanderdividieren (und in der Folge: Trennung), sondern ein intensives Interesse für den anderen, ohne sich an ihn anzupassen, aber mit der Bereitschaft, sich – Argumenten folgend – zu verändern, jedoch als freie Wahl, nicht in Folge von Druck. Wenn ein Partner das Gefühl hat, sich in der Beziehung selbst zu verlieren, ist seine Integrität bedroht.

Die „vier Aspekte des Gleichgewichts“

Voraussetzungen und Ziel einer funktionierenden Paarbeziehung und Sexualität sind:

1.) Ein solides und flexibles Selbst

Das bedeutet vor allem, dass das Verhalten sich orientiert an Grundwerten, dass ein Mensch im Dialog mit seinem Partner veränderbar ist und Veränderungen zulassen kann, ohne die eigene Identität zu verlieren.

Durch angemessene Angstregulation und ein stabiles, flexibles Selbst entsteht eine differenzierte Struktur.

2.) Ein stiller Geist und ein ruhiges Herz

Eine gut entwickelte Fähigkeit zur individuellen Selbstregulation und Selbstberuhigung OHNE dass diese vom Partner kommt, also emotionale Autonomie, Stabilität und Selbstfürsorge. „Das bedeutet, eigene Stabilität zu behalten, auch wenn der Partner sich Monate lang wie ein Irrer aufführt.“

  • „Dein Partner ist nicht dafür zuständig, dir zu geben, was du als Kind nicht gekriegt hast.“
  • „Die Selbstregulation findet nicht durch den Partner statt, sondern innerlich.“
  • „Es ist wichtig, aus der Abstimmung mit dem Partner herauszutreten, sonst wird man von ihm abhängig, und er kontrolliert ein.“

Aus der Säuglingsforschung ist bekannt, dass die Mutter und der Säugling die überwiegende Zeit durchaus nicht aufeinander abgestimmt sind, so dass der Säugling in der Lage sein muss, sich auch selbst, unabhängig von der Mutter, zu regulieren. Emotionale Selbstregulierung bedeutet dabei nicht Distanz vom anderen, sondern ermöglicht vielmehr erst Nähe.

  • „Wer sich selbst nicht regulieren kann, versucht, andere Menschen zu kontrollieren.“
  • „Die Stabilität in der Beziehung kommt nicht aus der Beziehung, sondern aus dem Individuum.“

Das Fördern von „Co-Regulation“ im Sinne eines bindungsorientierten Ansatzes funktioniert nicht bei mangelnd differenzierten Paaren. Menschen gehen Bindungen und Beziehungen ein, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre Angst und ihre Spannungen selbst zu regulieren. Die Bindung dient der Angstregulierung. Die eigene, individuelle Angst wird in einen Beziehungskonflikt verwandelt und somit gleichsam externalisiert. Dann wird das Problem zwischen den Partnern eskaliert und entwickelt sich zu einer „stabilen Instabilität“ (also dem emotionalen Patt).

3.) Maßvolles Reagieren

Das bedeutet vor allem, nicht überzureagieren, aber auch nicht auszuweichen, nicht gleichgültig zu sein (also nicht „unterzureagieren“), sondern auch vermiedene Themen (z.B. unerfülltes sexuelles Verlangen) anzusprechen.

  • „Manchmal musst du auch einfach die Klappe halten.“ „Wenn du deine Gefühle nicht kontrollieren kannst, Halt die Klappe.“
  • „Eine Beziehung wird stabilisiert durch die ein oder zwei Dinge, die man pro Tag nicht sagt.“
  • „Auch wenn ich blind vor Wut bin, ist es manchmal erstmal besser, meine Klappe zu halten, und meine eigenen Ängste erwachsen zu regulieren.“

4.) Bedeutsame Ausdauer

Das bedeutet die Bereitschaft, auch Mühsames zu tun, ausdauernd zu üben, vielfach zu wiederholen, „Unangenehmes für Wachstum auszuhalten„, und „going together through tough times“.

Grenzen erlauben Nähe, Konflikte ermöglichen Liebe.“ Das sei genau wie mit Kindern: die Liebe zu den Kindern lasse sich nur mit immer wieder auszutragenden Konflikten leben. Dieser müsse müssten die Partner „in sich hinein nehmen“ um die Liebe zum Partner zu ermöglichen.

Das emotionale Patt

Kompromisse zu machen um die Beziehung zu stabilisieren verletzt die Integrität beider. Dadurch entsteht ein innerer Konflikt zwischen dem Bemühen, sich dem Partner anzupassen und dem Kampf um den Erhalt der persönlichen Integrität. Auch dieser Konflikt ist eine normale Systemdynamik in langfristigen Paarbeziehungen und in sich nicht pathologisch. Wenn er sich zuspitzt, entsteht ein „emotionales Patt“ (ein „Verkehrsstau“), eine Blockade. Anpassung und Kompromissbildung sind ausgereizt und funktionieren nicht mehr, in der Regel mit der Folge, dass keine (befriedigende) Sexualität mehr stattfindet.

Bei Paaren mit festgefahrenen Konflikten gibt es andauernden, sich ewig wiederholenden Streit. Das Paar fühlt sich entfremdet voneinander, es gibt viele Kränkungen und Wut, keine Entschuldigungen und Wiedergutmachungen. Eine Intensivierung der Kommunikation an sich hilft hier ebenso wenig weiter wie das Beharren eines Partners auf das, was er möchte, das macht es oft eher schlimmer, weil es oft immer weiter in die Sackgasse hineinführt.

Wenn ein Partner zu sich selbst steht und bei sich bleibt, fühlt der andere sich früher oder später bedroht und reagiert mit Angst. Wenn ein Partner sich einer Manipulation ausgesetzt fühlt, beginnt er, von seinen Ängsten zu sprechen. „Das Reden über Angst kann eingesetzt werden, um die Partnerschaft zu kontrollieren.“ Wenn ein Partner etwas nicht will, muss er nur sagen: „Ich habe Angst…“, dann geht es an dieser Stelle meistens nicht weiter.

Was im Laufe einer langfristigen Beziehung an ungelösten Problemen übrig bleibt, ist „nicht verhandelbar„, denn alles andere ist bereits ausgehandelt. Auch das einfache Anerkennen des Unterschiedes („Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind“) funktioniert nicht mehr, denn der andere macht etwas (nicht), was man nicht hinnehmen kann. (Gemeint sind beispielsweise Konflikte wie: ein Partner möchte ein Baby kriegen, der andere nicht, der eine ist für eine strengere Erziehung der Kinder, der andere ist dagegen, der eine möchte mehr Sex, der andere weniger.)

Hauptthemen des emotionalen Patts sind: Sex, Geld, Kinder, die Schwiegereltern. Das Paar ist in reflexartigen, eingefahrenen Debatten gefangen. Nach Schnarch ist dieser Zustand der Entfremdung der Partner oft in Wirklichkeit ein Resultat von Verschmelzung: das Paar fühlt sich zwar entfremdet, ist in Wirklichkeit aber verschmolzen (ich würde sagen: das Paar ist zugleich entfremdet und verschmolzen, W.E.).

  • „Je weniger das Paar differenziert ist, je verschmolzener es ist und umso instabiler das Selbst beider ist, umso schneller landen sie in einem emotionalen Patt. Aber auch das ist natürlich und in langfristigen Paarbeziehungen früher oder später unvermeidlich.“

Hier unterscheidet sich der Differenzierungsansatz im therapeutischen Vorgehen klar vom bindungsorientierten Ansatz. Wenn das „emotionale Patt“ primär durch Verschmelzung entsteht, ist das Ziel der Therapie eine Differenzierungen der Partner, und nicht eine noch weitere Annäherung.

Früher oder später kommt es in paar Beziehungen unweigerlich zu „Zwickmühlen„. Beispiele:

  • Ein Partner oder beide möchte sich sexuell mit anderen Menschen ausleben, will aber, dass sein Partner ihm treu ist.
  • Ein Partner will, dass der andere beim Sex den Anfang macht, aber wenn dieser den Anfang macht, fühlt er sich unter Druck gesetzt.
  • Ein Partner will keinen Sex mit seinem Partner, hat aber auch Angst, dann von diesem verlassen zu werden.

In der Zwickmühle und im emotionalen Patt führe bloße therapeutische Empathie zu Kollaboration und bringe therapeutisch nicht weiter.

Die kritische Masse

Irgendwann erreicht die Eskalation des Problems eine „kritische Masse“. Es geschieht etwas (das kann auch ein scheinbare Kleinigkeit sein), das der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Nun ist die Beziehung selbst infrage gestellt. Es ist alles gesagt und so weit wie möglich ausgehandelt, nun tritt eine „unangenehme, kalte Stille“ aus Hilflosigkeit und ein und das Gefühl, „jetzt passiert etwas Grundsätzliches“.

Nun komme das Thema „Integrität“ wieder aufs Tablett, das lange Zeit ignoriert worden ist. Das Thema für einen Partner oder für beide ist nun: „Wie lasse ich hier eigentlich mit mir umgehen?“. Der Konflikt spitzt sich zu, bei einem Partner oder bei beiden werden traumatische Erinnerungen stimuliert. Die Situation ist über den Streit hinaus eskaliert. Der Partner streitet nicht mehr und denkt an Trennung. Eine grundsätzliche Systemveränderung ist gefordert.In der Regel versucht dann der andere Partner den ersten wieder in einen Streit hineinzuziehen, damit alles weitergeht wie vorher. Wenn dies nicht gelingt, entsteht eine Krise, in der es „um die Wurst geht“.

Beim Erreichen der kritischen Masse ist es besonders wichtig, dass die Spannungstoleranz des Therapeuten größer ist als die der Partner, denn sonst ist die Therapie blockiert. „Der Differenzierungsgrad (ich würde ergänzen: „… und die Bindungsfähigkeit“) des Therapeuten bestimmt, was passiert.“ Je niedriger der Differenzierungsgrad der Partner, umso höher ist das Spannungsniveau, das erforderlich ist, um zur kritischen Masse zu kommen. D.h. gut differenzierte Partner kommen früher zur Situation der kritischen Masse, die eine existenzielle Veränderungen erzwingt.

Ist die kritische Masse erreicht, so übernimmt im positiven Fall einer der beiden Partner (im noch positiveren Fall beide) die Verantwortung für die Situation und die Veränderung. Die Regulation wird nicht mehr beim Partner gesucht, der Konflikt wird nach innen genommen.

Im Hindurchgehen durch die Krise bekommt Sexualität eine andere Bedeutung, sie wird personal, also nicht mehr als bloße genitale Stimulation erlebt.

Die Therapie

Schnarch legt (in der Theorie) Wert auf ein „isomorphes Vorgehen„, also auf Interventionen, die sich an beide Partner zugleich richten und sich nicht mit dem einen Partner gegen den anderen verbünden. Der Therapeut bemüht sich z.B., zu dem einen Partner nichts zu sagen, was der andere ablehnt, was diesen verschreckt oder kränkt, also um ein therapeutisches Bündnis zu beiden Partnern zugleich (was er allerdings durch sein oft einseitig-konfrontatives Vorgehen in der Praxis nicht immer einhält, W.E.). Differenzierungsfördernde therapeutische Maßnahmen sind Zwei-Ebenen-Interventionen, die auf beide Partner zugleich gezielt sind.

Harte Konfrontation mit Beziehungsmustern

Um diese Methode anwenden zu können, muss der Therapeut muss eine präzise Fähigkeit zum Erkennen von (insbesondere destruktiven) Beziehungsmustern haben. Er expliziert sie dem entsprechenden Partner gegenüber auf zugespitzte Weise und konfrontiert ihn auf diese Weise mit kollusiven/verschmelzenden oder selbstaufgebenden Tendenzen (also mit mangelnder Differenziertheit), aber auch mit „Gemeinheiten“, „Macht- und Kontrollspielen“. Schnarch konfrontiert beide Partner hart mit ihren destruktiven Selbstanteilen und Beziehungsmustern und deren Folgen, auch unter Zuhilfenahme massiver moralischer Wertungen (wobei er manchmal dazu neigt, den Mann anzugreifen und die Frau zu schonen, was er in der Theorie aber ablehnt, W. E.).

Schnarch arbeitet auch mit provokativen Musterverschreibungen (z.B.: „Warum solltest du das ändern, es läuft doch gut so!“, „Das ist okay, lass es so!“, „Du hast genau den Partner, den du brauchst.“) Er definiert das, was dem einen Partner am anderen unerträglich ist (z.B. Beleidigungen, Rückzüge, Angriffe, Unnahbarkeit) als Herausforderung zum differenzierenden psychischen Wachstum.

Wenn beispielsweise ein Partner den anderen auf beleidigende Weise anklagt (z.B. „Du bist so lahm im Bett!“), kann der Therapeut den angeklagten Partner fragen: „Ist es wahr, was dein Partner zu dir sagt?“ Wenn er bestätigt, dass der Angriff zutrifft, fragt ihn der Therapeut z.B., worüber er sich eigentlich streitet. Betont er dagegen, dass der Angriff nicht zutrifft, fragt ihn der Therapeut, warum er die Beleidigung eigentlich persönlich nimmt.

(Schnarchs konfrontativer Stil eignet sich meiner Ansicht nach nur für konfrontative Kurzzeittherapien bei Paaren, bei denen das Kind sehr ernsthaft in den Brunnen gefallen ist, nicht aber für Langzeittherapien und nicht für Menschen mit Strukturschwächen, W.E.)

Umarmen bis zur Entspannung

Eine weitere Technik, die Schnarch anwendet, ist das „hugging till relax“ (Umarmen bis zur Entspannung), das er den Partnern als „Hausaufgabe“ aufgibt: sie sollen einander bekleidet und im Stehen mindestens 10, besser noch 20 Minuten lang umarmen. Während dessen sollen beide Partner sich auf sich selbst fokussieren, sich selbst regulieren, entspannen und erden („auf den Boden kommen“, „herunterkommen“) und sich dabei nicht primär auf den Partner fokussieren. Die Übung erfordert relativ viel Zeit, was vielen, besonders lange zerstrittenen Paaren, die lange keine Sexualität mehr hatten, schwer fällt. „Es braucht Zeit, sich zu beruhigen und zu regulieren.“ Es geht darum, sich selbst im körperlichen Kontakt zu zentrieren: „Ich bin ich selbst mit dir“.

Es handelt sich dabei um Selbsterfahrungsexperiment ohne spezifische und von vornherein feststehende Zielbestimmung. Wie auch immer die Übung abläuft – sie spiegelt das Selbstbild und die Beziehung der Partner. Auch wenn das Paar die Übung vermeidet oder abbricht, wenn ein Partner oder beide sich aus der Umarmung freimachen oder freimachen wollen, sie als Vorspiel für Sex missverstehen, erstarren, sich an dem anderen festklammern oder ihn besitzergreifend umklammern, sagt das viel über die Beziehung (insbesondere über die körperliche Beziehung und die Sexualität) aus.

Ziel der Therapie ist es, die Partner zu ermutigen, sich mit ihren eigenen Ängsten zu konfrontieren und „ihre eigene Form anzunehmen im Kontakt mit dem Partner“.

„Differenzierungen heißt, auf seinen eigenen Beinen zu stehen,
aber nicht auf den Zehen des Partners.“

Werner Eberwein
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