Was will die humanistische Psychotherapie?

Humanistische Psychotherapie ist Lernen, also Neulernen und Umlernen, aber nicht nur (wohl aber auch) im kognitiven Sinn einer Vermehrung aufgenommener Informationen, sondern vor allem als Erweiterung des Selbsterlebens, als Selbsterfahrung des „So-bin-ich-auch“, „So-könnte-ich-auch-sein“ und „So-bin-ich-vielleicht-eigentlicher“.

Primäres Ziel der humanistischen Psychotherapie ist die Heilung psychischer Störungen und die Linderung ihrer Symptome. Psychische Störungen werden subjektiv erlebt als anhaltendes psychisches Leid. Sie werden verstanden als gespürte Auswirkungen unbewusst reproduzierter Beziehungsmuster, die Auswirkungen multipler sozio-ökologischer Entfremdungen sind (AGHPT 2010-1).

Nach humanistischer Auffassung setzt nachhaltige psychische Heilung die Reflexion von und die Orientierung auf persönliche Sinnstrukturen und Wertvorstellungen voraus, indem der Patient durch die Gestaltung seines Lebens eine Antwort auf die Frage gibt, was er mit seinem Leben anfangen will und was ihm wirklich wichtig ist (Eberwein 2009, Eberwein & Thielen 2014, Kriz 2012).

Biografisch entsteht anhaltendes psychisches Leid durch

  • Deprivation, d.h. dauerhaftes Fehlen von etwas, was ein Mensch für ein psychisch gesundes Leben braucht,
  • Invasion, gewaltsames Durchbrechen schützender Identitätsgrenzen,
  • Repression, also Unterdrückung oder anhaltende Behinderung vitaler Lebensimpulse oder
  • Konfusion, massiv verwirrende Kommunikation durch mehrdeutige Botschaften oder unvereinbare Aufforderungen

… in verletzbaren Zuständen oder Entwicklungsphasen, vor allem in der frühen Kindheit (Eberwein 2012).

Im Zuge der Verarbeitung und Überwindung pathogener Beziehungsmuster kommt der Patient in der humanistischen Psychotherapie in die Lage, mehr von seinen Potenzialen zu entfalten und von seinen Ressourcen zu verwirklichen. Das wird unter anderem deutlich an einer gestärkten Fähigkeit, sich auf tragende, Halt und Sinn gebende soziale Beziehungen, insbesondere auf nahe und intime Bindungen einzulassen und sich im Rahmen seiner Lebenstätigkeiten vor dem Hintergrund einer reflektierten sozialökologischen Verantwortung selbst zu verwirklichen.

Das erfordert ein zunehmendes Gewahrwerden der eigenen Wahlfreiheiten und der unentrinnbaren Verantwortung für die psychischen und sozialen Folgen seines Handelns, sowie ein aktives und authentisches Engagement für reflektierte Lebensziele, auch in Bereichen, in denen sich der Patient zunächst seinem Leiden wie ausgeliefert fühlt.

Die humanistische Psychotherapie versteht sich als methodenintegratives Verfahren. Trotz einer gewissen Fixiertheit mancher ihrer ursprünglichen Schulenbegründer auf die von ihnen entwickelten speziellen Konzepte und Techniken haben die meisten humanistischen Praktiker schon immer mit vielen Methoden und Techniken und unter Einbeziehung vieler Theorien gearbeitet nach dem Prinzip „learning from many masters“. Dennoch hat das Verfahren „Humanistische Psychotherapie“ seinen eigenen Charakter. Die Art, wie die Patient-Therapeut-Beziehung verstanden und gehandhabt wird, spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Werner Eberwein