Was versteht man unter der Dialektik der Patient-Therapeut-Beziehung?

Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut ist eine ganz besondere zwischenmenschliche Konstellation. Sie beinhaltet eine Reihe von spezifischen Widersprüchen (von denen einige weiter unten beschrieben werden), die nicht als logische Paradoxien oder als ausschließendes Entweder-Oder verstanden werden können, sondern als Dialektiken, bei denen jeweils eine Seite die andere ermöglicht und bedingt, und deren Reibung miteinander den Fortschritt des therapeutischen Prozesses hervorbringt.

Fortschritt bedeutet hier nicht einfach eine lineare Zu- oder Abnahme (etwa eine Zunahme von Fähigkeiten oder eine Abnahme des Symptomdrucks), sondern eine sich ausweitende und vertiefende Auseinandersetzung mit existenziellen Grundthemen, im Zuge derer die Weiterentwicklung der sozialen und regulatorischen Kompetenzen des Patienten einhergeht mit einer Verbesserung der Fähigkeiten, leidvolle Probleme konstruktiv zu bewältigen (Längle 2011, 2014, 2016).

Beispiel: Eine Patientin leidet sehr darunter, dass sie sich auf ihren langjährigen Freund nicht wirklich einlassen kann, weil sie immer wieder Seiten an ihm entdeckt, die ihr nicht gefallen. Sie spürt, dass sie dazu neigt, immer wieder „ein Haar in der Suppe“ zu finden, und sie kennt dieses Muster aus vorangegangenen Beziehungen.

Die Schwierigkeit, sich mit Anteilen des Partners zu arrangieren, die einem nicht gefallen, ist wohl bei allem Menschen ein Thema, so lange es Menschen gibt. Bei dieser Patientin steht dieses Thema zurzeit im Vordergrund, es belastet sie mehr als alles andere in ihrem Leben.

Im Laufe der Therapie wird deutlich, dass die Patientin viel Zeit des Tages in einer Fantasiewelt verbringt, in der sie einen idealen Partner hat, dem ihr realer Partner „nicht das Wasser reichen kann“.

Hier ist ein weiteres existenzielles Grundthemen jedes Menschen angesprochen, nämlich das Enttäuschtsein an der Realität durch den Vergleich mit phantasierten Idealen.

Im Laufe ihrer Auseinandersetzung mit diesen Themen lernt die Patientin, Freude am immer tieferen Kennenlernen und an der Auseinandersetzung mit ihrem realen Partner zu entwickeln, gerade wegen seines Andersseins und seiner – in ihren Augen – „Unperfektion“, was zu einer Abnahme der Paarkonflikte und zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität führt.

Werner Eberwein