Was unterscheidet Gruppenpsychotherapie von Einzelpsychotherapie?

Aus meinen Erfahrungen in nunmehr fast 30 Jahren der Leitung einer wöchentlichen körperorientierten Therapiegruppe kann ich sagen, dass die Prozesse in solchen Gruppen derart vielfältig, vielgestaltig und komplex sind, dass es mir unmöglich wäre, sie systematisch unter einem oder wenigen Gesichtspunkten zu beschreiben. Daher möchte ich hier eine Reihe von Betrachtungsebenen auffächern, also Sichtweisen darauf, was eine Therapiegruppe im Unterschied zu einer Einzel-Psychotherapie bzw. darüber hinaus sein kann.

In seinem 2009 erschienenen Buch „Gruppenpsychotherapie“ führt Volker Tschuschke eine Reihe von Wirkfaktoren auf, die bei RCT-Studien relativ übereinstimmend herauskamen:

  1. Katharsis
  2. Gruppenzusammenhalt
  3. Feedback
  4. Verhaltensänderungen
  5. Einsicht

Ich will nicht bestreiten, dass diese Faktoren für gruppenpsychotherapeutische Prozesse relevant sind und in Therapiegruppen tatsächlich vorkommen. Dennoch geht es mir so, wie es mir fast immer geht, wenn ich die Ergebnisse psychologischer Studien lese: vor dem Hintergrund der Lebendigkeit, Vielschichtigkeit, teilweise auch Abgründigkeit, vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen und Entwicklungsprozesse, der Tränen, des Lachens und der Berührtheit, die bereits in einer einzigen Sitzung einer körperorientierten Psychotherapiegruppe entstehen können, erscheinen mir diese fünf Begriffe doch sehr reduziert.

Psychotherapiegruppen und insbesondere körperorientierte Psychotherapiegruppen wirken durch dynamische Prozesse und Interaktionen sowohl zwischen den Teilnehmern, als auch zwischen den Teilnehmern und dem Leiter, als auch innerhalb der Teilnehmer und innerhalb des Leiters, durch Einwirkungen äußerer Beziehungsfaktoren auf die Gruppenteilnehmer und durch die Auswirkungen der Gruppenprozesse im psychosozialen Umfeld derselben.

Hier also mein Versuch, ohne jede empirische Untermauerung, aber aus langjähriger Erfahrung und Anteilnahme geschöpft eine unvollständige Anzahl von Aspekten psychotherapeutischer Gruppenarbeit zusammenzutragen. Vieles davon gilt für psychotherapeutische Gruppen allgemeinen, einiges nur für körperorientierte Therapiegruppen. Das im Einzelnen zu unterscheiden, wäre mir zu kompliziert gewesen, vor allem weil in vielen psychotherapeutischen Gruppen, die nicht „körperorientiert“ heißen, auch mehr oder weniger häufig mit körperorientierten Methoden gearbeitet wird, während in Gruppen, die offiziell „körperpsychotherapeutisch“ heißen, keineswegs so häufig Körperarbeit gemacht wird, wie man vermuten könnte. Die folgenden Betrachtungsebenen gelten also meines Erachtens für psychotherapeutische Gruppen überhaupt unter besonderer Berücksichtigung körperorientierter Psychotherapiegruppen.

Voran einige Sprachregelungen:

  • Wenn ich im folgenden Text von den „Teilnehmern“ der Gruppe spreche, so meine ich die zahlenden Teilnehmer, nicht aber den Leiter.
  • Wenn ich dagegen von „Mitgliedern“ der Gruppe spreche, so meine ich die Gruppe in ihrer Gesamtheit, also inklusive des bzw. der Leiter.
  • Wenn ich von dem „Protagonisten“ spreche, so meine ich denjenigen, der gerade in der Gruppe „dran“ ist, der also im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, der etwas sagt, einbringt, oder an etwas arbeitet.
  • Selbstverständlich sind jeweils beide Geschlechter gemeint, auch wenn ich der Einfachheit halber vorwiegend die männliche Form verwende.

Was ist eine (körperorientierte) Psychotherapiegruppe?

  • Die Gruppe ist ein Beziehungsnetz. Vom ersten Moment der ersten Sitzung an, ja schon in den Vorgesprächen und davor noch im Entscheidungsprozess und den Vorüberlegungen eines Menschen, an einer Körpertherapiegruppe teilzunehmen entstehen verflochtene Beziehungsnetze, teilweise im unmittelbaren Kontakt real oder symbolisch gelebt, oder in der Fantasie, in den Gefühlen, Gedanken und Träumen der Gruppenteilnehmer und des Leiters. Eine körperorientierte Therapiegruppe bietet weit über den bloß verbalen Kontakt hinaus vielfältige Möglichkeiten der Erfahrungen von Kontakt und Begegnung also von Dialog (wobei man in einer Gruppe eigentlich von einem „Polylog“ oder „Multilog“ sprechen müsste).
  • Die Gruppe ist ein System. Die dynamischen Prozesse in einer körperorientierten Therapiegruppe können unmöglich mit einer linearlogischen Sichtweise etwa als Ergebnis spezifischer Interventionen oder Techniken erfasst werden. Bekanntermaßen ist es schon in der Physik unmöglich die Wechselwirkungen dreier Körper im Raum untereinander, zum Beispiel dreier Himmelskörper, exakt zu berechnen, weil es dabei zu hochkomplexen Feedbacksystemen kommt (das so genannte „Dreikörperproblem“). Im Vergleich zu den vielfältigen Ebenen der Interaktion zwischen acht oder zwölf Gruppenteilnehmern auf der Ebene des Gesprächs, des nonverbalen Körperausdrucks, der Übertragungen, der Fantasien, Wünsche, Ängste usw. erscheint das Dreikörperproblem in der Physik als ziemlich simpel. Außerdem ist eine Therapiegruppe eingewoben in Metasysteme kultureller, politischer, ökonomischer und ökologischer Art, auch wenn wir als Leiter unseren Blick oft verengen auf die Gruppe selbst und dann noch einmal auf die Psychodynamik einzelner Teilnehmer. Ich erinnere mich aber noch gut, wie die Katastrophe von Tschernobyl meine Ausbildungsgruppe acht Tage lang in Atem hielt, wie die Katastophe von 9/11, die ruchlosen Aktivitäten der Neonazis oder die Wulf-Affäre in meiner Therapiegruppe explizit oder implizit zum Thema wurden und die Dynamik explizit oder unterschwellig beeinflussten.
  • Die Gruppe ist ein Interaktionsfeld. Die Gruppenteilnehmer und der Leiter interagieren nicht nur rational und auf der Ebene des Inhaltes der gesprochenen Worte miteinander, sondern auch emotional mit ihrem nonverbalen Körperausdruck und ihrer zunächst nur innerlich erlebten psychosomatischen Resonanz auf die Zustände und Beiträge der anderen, sowie auf die Stimmung der Gruppe insgesamt. Dieser Prozess kann vom Gruppenleiter reflektiert, strukturiert und genutzt werden.
  • Die Gruppe ist eine Leinwand. Für jeden Gruppenteilnehmer inklusive des Leiters stellen die anderen anwesenden Personen, manchmal auch Subgruppen (z.B. die „Intellektuellen“ in der Gruppe, die älteren Frauen in der Gruppe o.ä.) Leinwände für vielschichtige Projektionen dar, in denen die Teilnehmer in der Dynamik der Gruppe sowohl ihre eigenen abgewehrten Anteile (ihre „Schatten“), als auch ihre latenten Fähigkeiten und Potenziale („Ressourcen“) gespiegelt erleben.
  • Die Gruppe ist ein Übertragungsnetz. In einer körperorientierten Psychotherapiegruppe finden unweigerlich wechselseitige Übertragungen und Gegenübertragungen zwischen den Teilnehmern und zwischen Teilnehmern und Leiter(n) statt. Diese Übertragungssysteme sind überaus komplex, sie können seriös nicht auf einzelne Sätze wie: „Der Teilnehmer X überträgt seinen kontrollierenden Vater auf den Leiter Y“ reduziert werden, obwohl es manchmal Sinn macht, auf solche Teilstrukturen hinzuweisen, wenn man das als therapeutisch hilfreich empfindet. Die Mitglieder der Gruppe sind in diese wechselseitigen Übertragungssysteme eingewoben, wobei davon nur ein kleiner Teil vage bewusst ist, sofern der Begriff „Übertragung“ einen Sinn machen soll. Für jedes einzelne Mitglied der Gruppe sind die anderen Mitglieder Projektionsfiguren für Aspekte verinnerlichter Beziehungsmuster. Dies geschieht spontan und zunächst unbewusst, kann aber auch als therapeutische Technik eingesetzt werden, beispielsweise dadurch, dass andere Mitglieder der Therapiegruppe in körperorientierten Rollenspielen vorübergehend als Stellvertreter beispielsweise für Mitglieder der Primärfamilie des Protagonisten dienen.
  • Die Gruppe ist eine Resonanzboden. Wenn ein Mitglied der Therapiegruppe etwas in die Gruppe einbringt, so „schwingt“ die Gruppe emotional mit, d.h. die anderen Gruppenmitglieder resonieren, jeder auf seine Weise, auf das, was der Protagonist eingebracht hat. Obwohl jedes Gruppenmitglied auf das, was der Protagonist einbringt, auf seine eigene, individuelle Art vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit und seiner Lebensgeschichte resoniert, entsteht in der Gruppe als Ganzes eine Art „Resonanzbild“, eine „Mitschwingungsgestalt“, die dem Protagonisten eine Rückmeldung auch über solche Aspekte seiner Mitteilungen geben kann, die ihm selbst nicht bewusst sind. Wenn beispielsweise ein Protagonist über etwas berichtet, was ihm sehr am Herzen liegt, aber zwei Drittel der Gruppe werden schläfrig und haben Mühe, ihre Augen offen zu halten, so spürt der Protagonist, dass er in seinem Ausdruck und in seinen Mitteilungen vielleicht nicht wirklich offen war. Der Leiter kann solche Resonanzprozesse auf vielerlei Weise diagnostisch Nutzen, zum Beispiel um den Stand und die Dynamik der Gruppe als Ganzes einzuschätzen oder als Feedbacksystem über unterschwellige Prozesse im jeweiligen Protagonisten. Er kann die Gruppe einladen, sich ihrer emotionalen und psychosomatischen Resonanz bewusst zu werden, und er kann die Gruppenteilnehmer ermutigen, ihre Resonanzen verbal und/oder nonverbal zum Ausdruck zu bringen.
  • Die Gruppe ist ein Facettenspiegel. Im Alltag entstehen im Zusammenleben oder in der Interaktion mit einzelnen Personen im Laufe der Zeit Rollenprägungen, die darauf hinauslaufen, dass der Einzelne sich dem Anderen nur innerhalb bestimmter Bahnen zeigt bzw. erlebt, während andere Aspekte seiner Identität ausgeblendet bleiben, von denen manche dann mit anderen Interaktionspartnern gelebt oder erlebt werden. Einer Person gegenüber, die sich kontrollierend verhält, wird man eher vorsichtig bis schüchtern sein, während man mit einem humorvollen Menschen oft und gerne lacht usw. Eine Therapiegruppe bietet die Möglichkeit, mit verschiedenen Gruppenmitgliedern unterschiedliche Aspekte der eigenen Identität zu leben bzw. zu erleben, so das man sich innerhalb einer therapeutischen Gruppe als vielfältiger in seiner Ganzheit erleben kann, als gegenüber einer einzelnen Person, auch gegenüber einem einzelnen Therapeuten.
  • Die Gruppe ist eine Bühne. In einer körperorientierten Therapiegruppe können spontan oder als therapeutische Technik Rollen ausgespielt werden. Der Teilnehmer X erfährt sich vielleicht in der Gruppe in seiner gewohnten Rolle als „Kummerkasten“, während der Teilnehmer Y vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben damit experimentiert, homosexuelle Emotionen, Impulse oder Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Als therapeutische Methode im Rahmen körperorientierter Rollenspiele kann das dazu dienen, Rollenfixierungen bewusst zu machen und einschränkende Rollennormen tendenziell zu überwinden, indem man erfährt, dass es eine Beziehungswelt außerhalb der gewohnten Rollennormen gibt.
  • Die Gruppe ist ein Vexierbild. Ein Vexierbild ist ein Bild, bei dem man beim Hinschauen Schwierigkeiten hat, zu entscheiden, was jeweils der Vordergrund und was der Hintergrund des Bildes ist. Je nach dem, was man als Vorder- bzw. Hintergrund definiert, sieht man beispielsweise entweder ein Gesicht oder eine Landschaft. Der Vordergrund des Gruppenprozesses ist der jeweilige Fokus der Gruppendynamik, also beispielsweise eine angeleitete Übung, die gerade durchgeführt wird, oder die Einzelarbeit eines Protagonisten. Der Hintergrund ist die jeweilige Atmosphäre in der Gruppe, deren Hintergrund wiederum die Geschichte und die systemische Einbindung des Gruppenprozesses insgesamt ist. In einer Psychotherapiegruppe wird der jeweilige Vordergrund, also das, was gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, nur vor dem Hintergrund der systemischen Gruppendynamik verständlich, die wiederum nur auf Grundlage der psychischen und biografischen Dynamik der einzelnen Gruppenmitglieder verständlich wird.
  • Die Gruppe ist ein Problemlösungsgenerator. Oft bringen Protagonisten ihre Themen in Form eines zu lösenden aber ungelösten Problems in die Gruppe ein, z.B.: „Ich fühle mich seit ein paar Tagen ganz wirr, aber ich weiß nicht warum.“ Hier ist die Gruppe implizit oder explizit aufgefordert, den Protagonisten zu unterstützen, seine Wirrheit zu durchschauen und gegebenenfalls ein Stück aus ihr herauszufinden. Aufgrund der impliziten Aufgabendefinition einer Psychotherapiegruppe übernimmt die Gruppe oft spontan diese delegierte Aufgabe und fungiert als „Generator“ für die Hervorbringungen von Problemlösungen. Manche Gruppenmitglieder antworten beispielsweise mit klärenden Rückfragen, andere mit eigenen Erlebnissen in der Absicht, dem Protagonisten zu unterstützen, mit Vorschlägen für praktische Lösungen oder für therapeutische Arbeitsweisen, um an dem eingebrachten Problem zu arbeiten. Die Aufgabe des Leiters besteht hier unter anderem darin, die eingebrachten Resonanzen auf eine Weise zu kanalisieren, dass sie für den Protagonisten und die Gruppe insgesamt eine konstruktive Gestalt annehmen, wobei unter anderem wichtig ist, dass der Protagonist sich nicht durch vorschnelle Lösungsratschläge („Ratschläge sind auch Schläge“) abgebügelt fühlt.
  • Die Gruppe ist ein Labor. In einer körperorientierten Psychotherapiegruppe können die Teilnehmer mit Unterstützung des Leiters und der anderen Gruppenteilnehmer neue Verhaltensweisen und Verhaltensmuster ausprobieren, erproben und einüben, alternative Verhaltensweisen (beispielsweise in Ambivalenzkonflikten) ausarbeiten und Feedback über deren Wirkung und deren mögliche Konsequenzen erhalten oder auch am Feiuntuning bestimmter Verhaltensweisen arbeiten, beispielsweise indem sie zu einem Gegenüber in einem Konflikt einen zentralen Satz in verschiedenen Stimmlagen oder mit verschiedenen Körperhaltungen sagen, um deren unterschiedliche Wirkung zu erproben.
  • Die Gruppe ist eine Lehrwerkstatt. Ein zentraler Unterschied zwischen der Psychotherapie in der Gruppe und einer Einzelpsychotherapie ist es, dass sich die Teilnehmer der Gruppe nicht nur in ihrer Rolle als „Patient“, also in ihrem Leiden und ihrer Hilflosigkeit erleben, sondern auch in ihrer Kompetenz, andere Teilnehmer bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten unterstützen zu können. Während ein Protagonist an einem Problem arbeitet, fungiert die Gruppe als Ganzes zeitweise als Co-Therapeut, und die Teilnehmer, die gerade nicht Protagonisten sind, erleben sich vorübergehend in quasi-therapeutischen Funktionen als temporäre „Coaches“ für den Protagonisten. Das kann vor allem für solche Gruppenteilnehmer heilsam sein, die sich ansonsten vorwiegend als inkompetent, hilflos und in ihrem Leiden gefangen fühlen.
  • Die Gruppe ist ein Rückhalt. Gruppenteilnehmer, die in ihrem Selbstgefühl und Selbstwertgefühl unsicher oder beschädigt sind, können innerhalb einer körperorientierten Therapiegruppe Trost, Akzeptanz, Verständnis, Mitgefühl und Bestärkung erleben. Manche Teilnehmer, die in emotional deprivierenden Familien aufgewachsen sind, erleben diese Art von Unterstützung und Rückhalt zum ersten Mal in ihrem Leben. Für sie ist die Therapiegruppe dann die neue Erfahrung einer „Nach-Familierung“. Sie erleben es zum ersten Mal, wie es ist, in einem intensiv haltgebenden Beziehungsnetz als Person wertgeschätzt, verstanden und in ihren Anliegen ernst genommen zu werden.
  • Die Gruppe ist ein Nest. Besonders für Gruppenteilnehmer mit latenten oder aktiven Strukturstörungen kann die Therapiegruppe vorübergehend als „Nest“ fungieren, in dem sie sich geborgen fühlen können, emotional „genährt“ werden, Stützung, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Empathie erfahren, was auf der frühen Ebene der stellvertretenden Beelterung eine überaus heilsame korrektive emotionale Erfahrungen sein kann.
  • Die Gruppe ist ein Kokon. Vor allem bei grundlegenden (früher sprach man von „frühen“) Strukturstörungen kann eine körperorientierte Psychotherapiegruppe vorübergehend als schützende Umhüllung für ein brüchiges Selbst fungieren. Menschen mit starker struktureller Instabilität sind z.B. nur schwer in der Lage, sich angemessen abzugrenzen, ihre Persönlichkeit als strukturell integriert zu erleben, angemessen für sich zu sorgen oder einen angemessenen Ausgleich zwischen eigenen Bedürfnissen und denen der Menschen, die ihnen nahe stehen, auszuhandeln. Hier kann die Gruppe als Ganzes vorübergehend Ich-Funktionen übernehmen, die zu diesem Zeitpunkt bei dem einzelnen Gruppenteilnehmer nicht oder nicht stabil vorhanden sind, wie beispielsweise Aspekte der Realitätsprüfung („War das wirklich so?“), der Selbstwahrnehmung („Bin ich wirklich so?“), der Selbstfürsorge (regelmäßiges ausreichendes Essen, genügend Schlaf, Zeiten der Erholung) oder der Abgrenzung („Mit mir kann man alles machen.“).
  • Die Gruppe ist ein Schlaraffenland. Für Teilnehmer, die in ihren Kontaktbedürfnissen depriviert sind, kann die Gruppe zeitweise zum erstmaligen Erleben oder Nachholen von Bedürfnissen nach intensivem emotionalen oder körperlichen Kontakt dienen. Vor allem Gruppenteilnehmer, in deren Familien körperlicher Kontakt tabuisiert war, oder schlicht nicht vorkam, oder die als Säuglinge einen Mangel an Halt gebender Fürsorge erlebt haben, können in einer körperorientierten Psychotherapiegruppe erfahren, wie es ist, im emotionalen und im körperlichen Sinn gehalten zu werden, körperliche oder emotionale Nähe oder vertrauensvollen Austausch zu erleben. Manche dieser Kontakterfahrungen können real in der Gruppe erlebt werden (zum Beispiel gehalten werden von der ganzen Gruppe), andere können symbolisch befriedigt werden (zum Beispiel die Erfahrung des Geschütztseins im Mutterleib durch bestimmte Methoden pränataler Körperarbeit).
  • Die Gruppe ist ein Assistent für den Gruppenleiter. Jeder Gruppenleiter verfügt über spezifische Fähigkeiten und Ressourcen und hat auf der anderen Seite bestimmte Schwächen, blinde Flecken, er neigt zur Überbetonung bestimmter Dynamiken, während er andere in ihrer Bedeutung unterschätzt oder nicht wahrnimmt. Hier kann die Gruppe als Ganzes den Gruppenleiter ergänzen und gegebenenfalls als Korrektiv wirken. Wenn sich beispielsweise der Gruppenleiter manchen Gruppenteilnehmern gegenüber überkonfrontativ oder überbehütend verhält, so kann die Gruppe darauf reagieren, den Gruppenleiter darauf hinweisen oder ihnen manchmal auch damit konfrontieren. Auf diese Weise können die auch bei den erfahrensten Gruppenleitern unweigerlich auftretenden Einseitigkeiten, Vermeidungen und Abwehrprozesse in gewissem Umfang durch die Gruppe ausgeglichen und korrigiert werden.
  • Die Gruppe ist ein Stimulus. Durch die Themen, die die anderen Gruppenteilnehmer einbringen, durch ihre Art der Kommunikation oder schlicht durch ihre Persönlichkeit wird der einzelne Gruppenteilnehmer unweigerlich mit Themen und Anteilen konfrontiert, die ihm zunächst als fremd erscheinen, manche als anziehend, andere als abstoßend, auf die er aber unweigerlich emotional reagiert, und die dadurch zur Anregung und zum Anstoß, zur Herausforderung und bisweilen zur Provokation für seine Selbstauseinandersetzung und sein psychisches Wachstum werden.
  • Die Gruppe ist ein Authentizitätsraum. Im Alltag bewegen wir uns normalerweise innerhalb bestimmter Rollenfixierungen, die nur in begrenztem Umfang wirkliche Authentizität in die Tiefe unseres Seins hinein zu lassen oder erfordern. Vieles im Alltagsleben ist bloß funktional oder Smalltalk. Wer wir wirklich sind, ist selten von Interesse und würde in vielen Kontexten sogar Befremden oder Ablehnung hervorrufen. In einer körperorientierten Psychotherapiegruppe dagegen ist das authentische So-Sein, das in den Tiefenschichten der Gefühle verwurzelte Erleben und Handeln gerade das, was gefragt ist und angestrebt wird. Daher ist eine körperorientierte Therapiegruppe ein ganz spezieller sozialer Raum, in dem die Teilnehmer sich selbst und die anderen sowohl in als auch unterhalb ihrer gewohnten sozialen Masken erleben und auf verschiedenen Schichten ihrer Innerlichkeit miteinander zu kommunizieren und interagieren lernen. Die Teilnehmer können in der Gruppe lernen, zu erforschen, wer sie wirklich sind, und wer anderen Menschen wirklich sind. Ein heilsamer Effekt dessen ist es, dass sie spüren, dass sie (entgegen dem, was sie vorher in der Regel glaubten) mit ihren Schwierigkeiten keineswegs allein sind.
  • Die Gruppe ist eine Menge. Bestimmte komplexe Übungsstrukturen wie zum Beispiel Tanzimprovisationen, biodramatische Systemaufstellungen oder Untergruppen-Interaktionen (also Gruppenübungen, in denen sich beispielsweise alle Männer und alle Frauen innerhalb der Gruppe gegenüberstehen und miteinander interagieren) können im Einzelsetting nicht oder nur indirekt-symbolisch durchgeführt werden. Solche komplexen Übungsstrukturen bieten spezielle Erfahrungsräume, die im Einzelsetting nicht möglich sind.
  • Die Gruppe ist ein sozialer Modell-Raum. In einer Psychotherapiegruppe entstehen im Laufe ihrer Etablierung und ihrer Geschichte allmählich ähnliche Strukturen, wie sie auch im alltäglichen Leben in Gruppen (Sozialsystemen, Familien, Freundeskreisen, Vereinen, Initiativen, Arbeitsteams usw.) entstehen. Es etablieren sich zum Beispiel Führerpersönlichkeiten, Königsmacher, schwarze Schafe, Gruppenbabys, dominante Personen, Ausgeschlossene usw. Diese gruppendynamischen Prozesse können therapeutisch reflektiert, bearbeitet, verändert, thematisiert, experimentell umsortiert usw. werden, was es den Teilnehmern ermöglicht, ähnliche Prozesse in ihrem Alltagsleben zu erkennen und besser damit umzugehen.
  • Die Gruppe ist eine Lebensschule. In einer Psychotherapiegruppe kann der Protagonist Fähigkeiten und Verhaltensweisen einüben, zum Beispiel Selbstreflexion in sozialen Situationen, respektvolle Auseinandersetzung oder Ähnliches, wobei der Leiter der Gruppe als „Trainer“ fungiert, der dem Protagonisten also Verhaltensweisen lehrt oder ihn bei der Entwicklung authentischen Verhaltens unterstützt. Die anderen Gruppenteilnehmer können als Modelle, Korrektive, Ideen- oder Feedback-Geber fungieren, gleichzeitig erleben sie die Arbeit des Protagonisten stellvertretend für sich selbst mit und können beim Miterleben etwas für ihr eigenes Leben lernen.
  • Die Gruppen ist eine Drachenhöhle. In einer körperorientierten Therapiegruppe können die Teilnehmer sich ihren Ängsten und Schamgefühlen stellen. Sie werden eingeladen, sich in die „Höhle“ hineinzuwagen (sich also ihren Vermeidungen und Abwehrprozessen zu stellen), den „feurigen Atem“ des Drachen zu spüren, den „Drachen“ (das Abgewehrte) als Teil ihrer selbst zu erkennen, anzuerkennen und zu integrieren, um die Kraft, die Weisheit und das „Feuer“ (die Leidenschaft) des Drachen als latente Ressourcen ihrer eigenen Seele zu erkennen und zu integrieren.
  • Die Gruppe ist ein Fluss. Jeder Gruppenprozess hat seine eigene Geschichte und seinen eigenen Verlauf. Es handelt sich um einen dynamischen Prozess, in dem vielfältige Erfahrungen nacheinander und parallel möglich sind, mit ruhigen Stellen, Hindernissen, wilden Strömungen, gemächlich dahinfließenden Dialogen, Strudeln, Untiefen, seichten Stellen und Mündungen in andere „Flüsse“ (soziale Dynamiken) hinein.
  • Die Gruppe ist eine Zeitmaschine. In einer körperorientierten Therapiegruppe können die Teilnehmer sich selbst vertieft im Hier-und-Jetzt erleben und erkunden, sie können aber auch biografische Bezüge in die Vergangenheit hinein erforschen, durch bestimmte Formen der Körperarbeit sogar bis in die frühe Säuglingszeit hinein, und sie können sich imaginativ und erlebnisorientiert in verschiedene Varianten ihrer biografischen Zukunft hinein orientieren, beispielsweise in ein erfülltes Leben im Alter, in Konsequenzen existenzieller Entscheidungen oder gar auf ihr Sterbebett im Rückblick auf ihr Leben.
  • Die Gruppe ist ein Ashram. Nein, das bedeutet nicht, dass den Teilnehmern religiöse Orientierungen übergestülpt werden (sollte das passieren, dann wäre es ein schwerer therapeutischer Fehler). Aber die Gruppenteilnehmer können durch tiefe dynamische Körperarbeit (beispielsweise durch Techniken der Atemverstärkung) transzendente Erfahrungen machen, die also die Bewusstseinsräume, die ihnen bis dato bekannt und zugänglich waren, überschreiten, bis in die bewusstseinsfernen Zustände von Träumen, Mythen und archaischen Visionen hinein.
  • Die Gruppe ist eine Spielwiese. In einer körperorientierten Psychotherapiegruppe geht es keineswegs immer nur bierernst zu. Es geht nicht immer nur um existenzielle Dramen, um Leid oder Schmerz, sondern oft haben die Mitglieder der Gruppe auch einfach Spaß miteinander, sind vergnügt und ausgelassen, spielen miteinander, tanzen, massieren sich, tun einfach nichts oder toben sich aus, träumen oder sitzen beieinander und plaudern. Diese unspezifisch, beiläufig oder außertherapeutisch erscheinenden Aktivitäten sind in Wirklichkeit wertvolle Teile der Gruppenerfahrung und tragen viel zum Wohlbefinden und zum Heilungsprozess der Gruppenteilnehmer bei.
  • Die Gruppe ist eine Peer-Group. Es handelt sich nicht bloß um einen funktionalen Kontakt untereinander in der Rolle des „Patienten“. Ob das in das Konzept der jeweiligen Theorie oder in die Absichten des Gruppenleiters hineinpassen mag oder nicht, de facto, manchmal auch gegen anderslautende Vereinbarungen, die in manchen Therapiegruppen getroffen werden, entstehen unter den Teilnehmern der Gruppe unweigerlich reale soziale Beziehungen. Es entstehen Zu- und und Abneigungen, Freundschaften finden sich, lösen sich manchmal wieder, vieles von dem außerhalb der Gruppenzeit, manches bereits vor der Gruppenteilnahme, anderes erst lange im Nachhinein. Gelegentlich höre ich von ehemaligen Teilnehmern meiner Therapiegruppe, dass sie sich noch viele Jahre nach ihrem Ausstieg aus der Gruppe mit anderen Gruppenteilnehmern treffen, mit ihnen zusammen Weihnachten oder Silvester feiern, sich gegenseitig zum Geburtstag einladen, beruflich zusammenarbeiten, Wohngemeinschaften gegründet haben oder ähnliches. Für manche Teilnehmer macht gerade das im Nachhinein den wichtigsten heilenden Prozess ihrer Gruppenteilnahme aus.
  • Die Gruppe ist ein Arbeitsplatz für den Leiter. Der Aufbau einer Gruppe erfordert intensive Aquise, inhaltliche Vorbereitung, das Abschließen von Verträgen, das Besorgen und Einrichten oder Anmieten eines entsprechenden Raumes , die Honorargestaltung inklusive Abrechnung, Ausfallregelungen und buchhalterische, sowie steuerliche Verarbeitung, gegebenenfalls die Abrechnung mit der Kassenärztlichen Vereinigung, den Krankenkassen oder anderen Kostenträgern.
  • Die Gruppe ist eine Klinik. Vor dem Hintergrund seiner professionellen Ausbildung sieht der Leiter die Gruppe auch als Ort der Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen. Er arbeitet mit verschiedenen Formen der Diagnostik, sowohl nach dem ICD10, als auch nach „selbstgestrickten“ oder körperpsychotherapeutischen diagnostischen Systemen, die die zu behandelnden Symptomatiken erfassen, Hypothesen über dahinter stehende Ursachen bilden und Problem- und Person-spezifische Interventionsformen begründen, die zur Linderung, Überwindung oder Beseitigung der Störungen beitragen sollen, was durch die eine oder andere Formen der Evaluation (im einfachsten Fall durch Mitschriften des Leiters, aber auch durch Fragebögen usw.) überprüft wird.
  • Die Gruppe ist eine Sparbüchse. Entgegen der Politik der Krankenkassen, die Gruppenpsychotherapie immer noch viel zu gering honorieren und ihr durch die unsägliche Berichtspflicht sinnlose Barrieren in den Weg legt, ist Psychotherapie in der Gruppe für die Teilnehmer (damit auch für eventuelle Kostenträger) deutlich kostengünstiger als Einzeltherapie und in Kombination mit Einzeltherapie effektiver als nur Einzeltherapie oder nur Gruppe. Für den Leiter wiederum ist therapeutische Gruppenarbeit einträglicher als Einzeltherapie, weil die Teilnahmebeiträge einer Psychotherapie einer Gruppe insgesamt höher sind als das Honorar von Einzeltherapie, was auch angemessen ist, weil das Leiten einer Gruppe deutlich schwieriger ist und spezielle Qualifikationen über die Arbeit mit Einzelpersonen hinaus erfordert.
  • Die Gruppe ist ein Affenfelsen. Unweigerlich entstehen in einer psychotherapeutischen Gruppe Hierarchien, wobei der Leiter zunächst (und in der Regel die ganze Zeit über) unanfechtbar eine herausgehobene weil professionell fixierte Position einnimmt (wobei er gelegentlich aber auch entmachtet, mit seiner Inkompetenz konfrontiert oder kollektiv entwertet werden kann). Es entstehen verschiedene Parallel-Hierarchien gleichzeitig, beispielsweise eine Hierarchie der Dominanz, eine zweite Hierarchie der Attraktivität, dann nochmal Hierarchien innerhalb der Subgruppe der Männer und der Subgruppe der Frauen, eine Hierarchie der Therapie-Erfahrenheit, des Alters usw. Wenn hierarchische Strukturen wie diese angesprochen, untersucht und gegebenenfalls transformiert werden, kann das ein fruchtbarer Aspekt des Gruppenprozesses sein.
  • Die Gruppe ist eine Herde. Hier kommen wir in einen Bereich der Gruppenpathologie. Bereits in kleinen, und mehr noch in größeren Gruppen sind stets mikrokosmische Massenphänomene zu beobachten (auch wenn man das vielleicht nicht gerne wahrhaben möchte), zum Beispiel die Neigung zu unkritischer Gefolgschaft dem Leiter oder den Wortführern gegenüber, die Entwicklung eigener Begriffe oder eigener Sprachregelungen, Aspekten einer eigener Kultur und eigener Tabus, Tendenzen zur Abschottung nach außen, narzisstische Idealisierungen des Leiters oder der Gruppe selbst bis hin zu sektenähnlichen Entwicklungen mit Ideen miteinander geteilter Großartigkeit oder gar Einzigartigkeit. Ansätze solcher malignen Entwicklungen müssen unbedingt reflektiert, durchgearbeitet und überwunden werden (was in hartnäckigen weil vom Narzissmus des Leiters verstärkten Fällen nur mit Unterstützung intensiver Supervision gelingen kann). Tendenzen in dieser Richtung sind jedoch in praktisch allen, auch psychotherapeutischen Gruppen zu beobachten.

Beim Schreiben wurde mir nochmals deutlich, wie vielfältig gruppenpsychotherapeutische Prozesse eigentlich sind, wobei meine Aufzählung wirklich unvollständig ist, und durch beliebig viele weitere relevanter Facetten ergänzt werden könnte.

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich persönlich die Arbeit mit körperorientierten Psychotherapiegruppen als überaus befruchten und befriedigend, wenn auch oft herausfordernd, dann wieder berühren, manchmal anstrengend, gleichzeitig aber auch als Energie-gebend, herzerwärmen, erfrischend, belebend und für mich selbst heilend erlebt habe.

Werner Eberwein