Was sind „Korrektive Erfahrungen“?

In der humanistischen Psychotherapie hat der Patient die Möglichkeit, in der Interaktion mit dem Therapeuten alternative, korrektive Beziehungsmuster zu erleben, die geeignet sind, pathogene Beziehungserfahrungen zu verändern, vor allem dann, wenn die therapeutische Beziehung im Rahmen einer Langzeittherapie zu einer längerfristigen, vertieften Bindungserfahrung wird.

  • Der Patient kann in der Therapie die Erfahrung machen, dass es möglich ist, dem Therapeuten gegenüber Themen anzusprechen, die er in seinen Alltagsbeziehungen vermeidet.
  • Er kann erleben, wie er vom Therapeuten authentische und wertschätzende Reaktionen oder Rückmeldungen auf Anteile erhält, für die er in seinem Alltag Ablehnung oder Entwertung erwartet oder erlebt.
  • Er kann erfahren, vom Therapeuten verstanden und begleitet zu werden auf Erlebnisebenen, auf denen er sich bisher von niemandem sonst verstanden fühlte.
  • Er kann Einladung und Erlaubnis erfahren, Gefühle, Impulse und Fantasien zu erleben und auszudrücken, die für ihn schambehaftet oder angstbesetzt sind, und die er daher in seinem Alltag von seinem Erleben fernhalten muss.
  • Er kann erleben, wie der Therapeut ihn aktiv mit selbstschädigenden Anteilen konfrontiert, die in seinem Alltagsumfeld mit Gegenaggression oder Rückzug beantwortet, ignoriert oder bloß leidend hingenommen werden.
  • Er kann die Erfahrung machen, dass der Therapeut von Gefühlen, die ihn, den Patienten, zu überwältigen drohen, nicht überwältigt wird, sondern diese annehmen, „halten“ und kommunizieren kann.

Der Patient kann also in der humanistischen Psychotherapie Erfahrungen machen, die auf heilsame Weise mit seinen bisherigen Lebenserfahrungen kontrastieren. Dadurch kann er sich – möglicherweise zum ersten Mal in seinem Leben – als Person gesehen, angenommen, wertgeschätzt, mit Wohlwollen und authentischem Interesse behandelt und zugleich aber auch in seiner Verantwortung ernstgenommen fühlen. Dies kann dazu beitragen, alte, pathogene Beziehungsmuster und Reaktionserwartungen zu transformieren. Wir sprechen dann von „korrektiven Erfahrungen“ in der Psychotherapie (Lang 2004).

Werner Eberwein