Was sind Persönlichkeitsstörungen?

In seinem 2007 in der sechsten Auflage bei Beltz erschienenen Buch „Persönlichkeitsstörungen“ beschreibt der Psychologe Professor Peter Fiedler von der Universität Heidelberg die aktuellen Vorstellungen von Persönlichkeitsstörungen und ihrer Behandlung vor allem in der Richtlinientherapie.

Persönlichkeit definiert Fielder als die charakteristischen Verhaltensweisen und Interaktionsmuster, also die Eigenarten, die eine Person typisieren und von anderen unterscheiden.

Der Begriff „Persönlichkeitsstörungen“ ist laut Fiedler aus mehreren Gründen problematisch:

  • Es handelt sich nach Auffassung der meisten Psychotherapeuten und Forscher dabei primär um Beziehungsstörungen, die jedoch mit dem Begriff „Persönlichkeitsstörung“ zu individuellen Problemen gemacht werden, was unter dem Stichwort „Stigmatisierungsproblem“ kritisch betrachtet wird.
  • Die gängigen diagnostischen Kriterien für Persönlichkeitsstörungen beinhalten eine Vorstellung der Abweichung von sozialen Normen, ohne zu begründen, worin diese Normen genau bestehen, bzw. woran genau sie sich orientieren. Die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen setzt also eine Übereinkunft über soziale Normen für interpersonelle Beziehungsmuster voraus, die aber als solche nicht reflektiert werden. Es wäre möglich, dass die manche sozialen Normen selbst problematisch im Sinne von krankmachend sind, so das eine Abweichung von ihnen ein gesundes Verhalten wäre. Beim Begriff der „sozialen Normenen“ muss also kritisch mitreflektiert werden, ob es sich dabei um schutzwürdige Interessen im Sinne der Menschenrechte oder um pathogene oder verknöcherte, also repressive Strukturen handelt, unter denen der Betreffende leidet und/oder gegen die er sich (vielleicht unreflektiert, aber evtl. berechtigterweise) auflehnt.
  • Durch die Zuschreibung der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ werden dem Betreffenden überdauernde und fixierte Merkmale seiner Identität zugeschrieben, die seine Entwicklung eher festschreiben und seine persönlichen Kompetenzen und insbesondere seine Reflexionsfähigkeit infragestellen.
  • Viele Menschen mit sogenannten Persönlichkeitsstörungen verfügen in bestimmten Bereichen über große Kompetenzen im Durchschauen sozialer Verstrickungen und einen großen Mut, auch gegen soziale Regeln zu leben. Andererseits führen manche Beziehungsmuster, die als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet werden, zu sozialen Verwicklungen oder Schädigungen unterschiedlichen Schweregrades, von anhaltenden Paarkonflikten bis hin zu schweren kriminellen Handlungen.

Die Anzahl und Beschreibung der Persönlichkeitsstörungen variiert stark nach Quelle und Autor. Hier die am häufigsten beschriebenen Persönlichkeitsstörungen mit einer kurzen desriptiven Charakteristik nach Fiedler (wobei leider kritisch bemerkt werden muss, dass Fiedler in der Beschreibung der Persönlichkeitsstörungen in keiner Weise mehr auf die vorher betonten Problembereiche Bezug nimmt):

  • Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD10 F60.31) leiden unter einer umfassenden Identitätsstörung sowie einer Störung der Affektkontrolle. Auffällig ist eine extreme Instabilität im Bereich der Stimmungen und der Affektivität sowie Probleme, Impulse zu kontrollieren, was zu erheblichen Konflikten und Krisen im zwischenmenschlichen Bereich mit unangemessener Wut und aggressiven Durchbrüchen sowie autoaggressiven Handlungen und Impulsen bis hin zu drastischen Selbstverletzungen oder parasuizidalenm Handlungen führt. Sie neigen zu überwältigender und übertriebener Angst vor Verlassenwerden, die in keinem rationalen Verhältnis zur wirklichen Gefahr steht, sondern diese in vielen Fällen erst hervorbringt. Sie haben ein intensives Bedürfnis, beschützt und behütet zu werden und konstante physischer Nähe zum Lebenspartner oder Liebhaber zu haben. Freundliche Abhängigkeit schlägt unerwartet und manchmal sehr schnell in intensive, beschuldigende Feindseligkeiten um, wenn ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden, was für Bezugspersonen aber unmöglich ist.
  • Menschen mit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörungen (ICD10 F60.8) sind überaus verletzbar durch Andeutungen von Kritik oder Zurückweisung. Sie leiden unter einem Mangel an Empathie, ihr Selbstwertgefühl ist instabil und gespalten. Ihre extreme Kränkbarkeit kann zu depressiven Krisen mit erhöhtem Suizidrisiko führen. Sie sind übermäßig empfindlich gegenüber der Einschätzung durch andere. Ihre Beziehungsfähigkeit ist durch überstarke Selbstbezogenheit und durch einen Mangel an Einfühlungsvermögen gestört. Sie neigen zu Überidealisierung und Abwertung zugleich, sowohl ihrer eigenen Person als auch anderen Menschen gegenüber. Sie erwarten, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden und ergehen sich in Fantasien von grenzenlosem Erfolg, Macht und Schönheit, fühlen sich aber gleichzeitig als hilflose „Loser“, hässlich und verachtensert. Sie verhalten sich ausbeuterisch und nutzen andere Menschen gewissenlos aus, lassen sich aber von idealisierten Personen selbst ausnutzen. Sie haben einen extrem instabiles Selbstwertgefühl, das zwischen grandioser Selbstüberschätzung und verächtlicher Selbstabwertung pendelt bzw. stets beide Aspekte beinhaltet. Sie neigen dazu, andere Menschen entweder zu vergöttern oder zu verachten, wobei diese Einstellungen schnell umschlagen können.
  • Die Histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD10 F60.4) ist gekennzeichnet durch ein lebhaftes, sich in den Mittelpunkt drängendes Verhalten sowie durch eine Neigung zur Überemotionalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, übermäßiger Beschäftigung mit der äußeren Erscheinung sowie dem intensiven Wunsch, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Die Betreffenden verhalten sich unangemessen sexuell verführerisch oder provokant, zeigen einen rasch wechselnden, aber oberflächlichen Gefühlsausdruck und setzen ihre körperliche Erscheinung ein, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie neigen zu Selbstdramatisierung, Theatralik und übertriebenen Gefühlsausdruck, sind leicht beeinflussbar und fassen Beziehungen enger auf, als sie tatsächlich sind. Sie neigen zu schwer nachvollziehbaren, plötzlichen Affektwechseln, bestehen auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und haben eine geringe Frustrationstoleranz. Sie neigen zu überzogener Angst, nicht beachtet zu werden und einem überwältigenden Wunsch, von einer starken Person geliebt und umsorgt zu werden, die durch betont charmantes und unterhaltsames Verhalten, sowie durch unangemessen verführerisches Verhalten kontrolliert wird.
  • Die Antisoziale (dissoziale) Persönlichkeitsstörung (ICD10 F60.2) ist charakterisiert durch fehlende Schuldgefühle und Störungen der Impulskontrolle. Die Betreffenden neigen dazu, eigene Ziele rücksichtslos durchzusetzen. Sie werden von momentanen Eindrücken und spontanen Impulsen mitgerissen, auch wenn andere dadurch verletzt oder erniedrigt werden. Sie haben einen Mangel an Introspektionsfähigkeit und sind kaum in der Lage, vorausschauend zu planen und zu handeln. Sie zeigen kaum Angst und haben eine hohe Risikobereitschaft. Sie sind unzuverlässig und bindungsschwach. Sie haben ein unangemessenes Bedürfnis, andere zu kontrollieren, gepaart mit einer massiven Vermeidung, selbst durch andere kontrolliert zu werden, die mit Verachtung behandelt werden. Es besteht eine Neigung zu ungezügelter Aggressionen um das Kontrollbedürfnis oder die eigene Unabhängigkeit zu sichern, ein Desinteresse anderen Menschen gegenüber und eine starke Tendenz zu zwischenmenschlicher Distanz. Häufig sind zusätzliche gesundheitliche und soziale Probleme durch Missbrauch von Alkohol und Drogen. Es kann zu schweren Gewaltdelikten und Rechtsverletzungen kommen. Auch begleitende depressive Störungen können auftreten, weil innere Leere und Langeweile schwer zu ertragen ist. Das Suizidrisiko ist deutlich erhöht.
  • Menschen mit einer Dependenten Persönlichkeitsstörungen (ICD10 F60.7) neigen zu hilfloser Abhängigkeit und einem Mangel an Eigeneninitiative. Sie verhalten sich passiv und unterwürfig und haben ein geringes Selbstvertrauen. Sie neigen zu anklammerndem Verhalten aus Angst vor Verlassenwerden und vor Trennungen. Lebensentscheidungen werden gern anderen überlassen. Sie ordnen sich anderen unter und sind nachgiebig gegenüber deren Bedürfnissen. Sie sind auf abhängige Weise loyal, aufopfernd und unterwürfig, haben große Angst vor Versagen und lassen sich ausnutzen und ausbeuten Sie sind extrem nachgiebig gegenüber dominierenden Personen, weil sie auf umfassende Umsorgung und Unterstützung angewiesen sind. Sie neigen dazu, Misshandlung und Missbrauch zu tolerieren, weil sie glauben, alleine und ohne eine dominante Bezugspersonen nicht überleben zu können.
  • Zwanghafte Persönlichkeiten (ICD10 F60.5) sind übermäßig ordnungsliebend und ausdauernd. Sie zeigen ein übertriebenes Interesse für Details, Gewissenhaftigkeit und Perfektion, was zu Unentschlossenheit, übermäßigen Vorsicht und ständigem Zweifeln führt. Sie beschäftigen sich übermäßig mit Ordnung, Regeln, Listen, Plänen oder rigiden Moralvorstellungen auf Kosten von Spontaneität und Flexibilität. Sie haben Schwierigkeiten, unbrauchbare und verschlissene Dinge wegzuwerfen, selbst dann, wenn diese nicht einmal einen Gefühlswert besitzen. Sie delegieren ungern Aufgaben an andere und arbeiten ungern mit anderen zusammen, wenn diese nicht exakt die eigene Arbeitsweise übernehmen. Sie sind sind rigide und halsstarrig sowie extrem geizig sich selbst und anderen gegenüber und neigen dazu, Geld im Hinblick auf künftige Katastrophen zu horten. Sie sind äußerst sensibel gegenüber Kritik durch Autoritätspersonen und neigen zu Pedanterie im Befolgen von Konventionen. Arbeit wird jedem Vergnügen oder zwischenmenschlichen Kontakten übergeordnet. Sie sind streng, eigensinnig, anspruchsvoll und prinzipientreu, so dass persönliche Beziehungen darunter leiden. Sie fürchten beständig, etwas falsch zu machen oder wegen eigener Unzulänglichkeiten angeschuldigt zu werden. Sie orientieren sich stark an allgemeinen Ordnungsvorgaben und neigen dazu, andere Menschen rücksichtslos zu kontrollieren, Autoritäten oder Prinzipien mit blindem Gehorsam zu folgen und zu exzessiver Selbstdisziplin bei gleichzeitiger Unterdrückung eigener Gefühle, strenger Selbstkritik und Vernachlässigung eigener Gefühle, wobei sie dies auch von anderen Menschen fordern.
  • Die Negativistische (passiv-aggressive) Persönlichkeitsstörung (ICD10 F60.8) ist charakterisiert durch ein durchgängiges Muster passiven Widerstands gegenüber Forderungen im sozialen und beruflichen Bereich. Sie widersetzen sich passiv der Erfüllung von Routineaufgaben und beklagen sich, von anderen missverstanden und missachtet zu werden, sind mürrisch und streitsüchtig und neigen zu unangemessener Kritik und Verachtung gegenüber Autoritäten. Sie neigen zu offenem Neid und beklagen sich übertrieben über persönliches Unglück. Sie glauben, dass Autoritäten oder Bezugspersonen grundsätzlich inkompetent, unfähig oder grausam sind, weshalb sie sie als rücksichtslos und beachtenswert betrachten. Sie beschweren sich häufig über ungerechte Behandlung, fürchten Kontrolle jeder Art und verlangen fordernd Wiedergutmachung für vermeintlich zugefügtes Leid.
  • Menschen mit Ängstlich-vermeidender (selbstunsicherer) Persönlichkeitsstörungen (ICD10 F60.6) neigen zu sozialer Angst und Unsicherheit. Sie haben eine überzogene Furcht vor Demütigung und Zurückweisung. Um diese zu vermeiden, halten und ziehen sie sich zurück, haben aber gleichzeitig ein intensives Bedürfnis nach Liebe und Akzeptiertwwerden. Sie leiden unter mangelndem Selbstvertrauen und vermeiden unabhängige Entscheidungen, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie sind sozial gehemmt, fühlen sich unzulänglich und sind überempfindlich gegenüber negativer Beurteilung. Sie sind chronisch angespannt und besorgt und lassen sich auf nähere Kontakte nur ein, wenn sie absolut sicher sind, gemocht und geliebt zu werden. Aus Angst vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung vermeiden sie soziale und berufliche Aktivitäten. Im sozialen Kontakt wirken sie unzufrieden, gequält, distanziert, zäh und stockend. Sie neigen zu Verlegenheit und leichtem Erröten. Sie brauchen übermäßig viel Sicherheit und Unterstützung, können aber gelegentlich auch in wütender Entrüstung explodieren.
  • Menschen mit Paranoider Persönlichkeitsstörung sind fanatisch, querulatorische und rechthaberisch. Sie neigen zu Misstrauen und dazu, neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindselig und kränkend zu interpretieren. Ihre Fehlwahrnehmungen interpersoneller Dynamiken kann nahezu wahnhaften Charakter annehmen. Sie neigen zu einem tiefgreifenden Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen. Sie fühlen sich ausgenutzt oder benachteiligt und liegen häufig im (Rechts-) Streit mit anderen Menschen. Die Betreffenden fürchten, von anderen angegriffen oder beschuldigt zu werden. Sie verschließen sich, entziehen sich sozialen Kontakten, halten Distanz oder versuchen, vermeintlich bedrohliche Menschen durch Gegenkontrolle auf Distanz zu halten.Loyalität anderer wird grundsätzlich in Zweifel gezogen; dies hat oft den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung, denn das anhaltende Misstrauen führt leicht dazu, dass dem Betreffenden tatsächlich Informationen vorenthalten werden, oder dass er abgelehnt wird, was seinen Argwohn bestätigt.
  • Die Schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD10 F60.1) ist gekennzeichnet durch soziale Isolation und Einsamkeit. Vorherrschend ist ein Gestus der Unabhängigkeit. Die Betreffenden leben zurückgezogen und fühlen sich in der Gesellschaft anderer unwohl, dabei gleichzeitig isoliert und einsam. Sie sind überempfindlich und kühl, passiv und gleichmütig. Sie sind einerseits zurückgezogen, schroff und ablehnend, zugleich aber empfindsam, leicht verletzbar, launisch und sprunghaft. Sind sind distanziert in sozialen Beziehungen und haben nur eine eingeschränkte Bandbreite des Gefühlsausdrucks im zwischenmenschlichen Erleben zur Verfügung. Wird ihre Neigung zum Rückzug kritisiert, kann es zu Zornesausbrüchen und Gegenangriffen kommen. Die Betreffenden haben Entwicklungsdefizite bezüglich sozialer Fertigkeiten und Wahrnehmungen, so dass sie, selbst wenn sie in Partnerschaften leben, kaum wirkliche Intimität leben können.
  • Die Schizotypische Persönlichkeitsstörung (ICD10 F21) ist gekennzeichnet durch eine Schwierigkeit, tiefe Freude zu empfinden und eine gestörte Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit. Die Betreffenden neigen zu magischem selbstbezogenen Denken und glauben häufig, Fähigkeiten zu magischer, telepathischer Einflussnahme zu besitzen. Sie neigen zu Illusionen über außerpersönliche Kräfte und an Einflüsse von nicht anwesenden Personen sowie zu Depersonalisation und Derealisation. Auffällig ist eine vage, umständliche, metaphorische Sprache. Die Betreffenden haben ein überstarkes Bedürfnis, von anderen in Ruhe gelassen zu werden und neigen zu einem feindselig gestimmten sozialen Rückzug sowie zu einer Vernachlässigung ihrer selbst.

Werner Eberwein