Was sind Gefühle?

Gefühle sind etwas, was wir unmittelbar erleben. Aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir „Gefühle“ sagen?

Der Begriff „Gefühl“ wird sehr unterschiedlich benutzt:

  • Ich verstehe unter Gefühlen nach Damasio (s.u.) subjektiv als bedeutungsvoll wahrgenommene psychosomatische Körperzustände, die die Lebensereignisse und das soziale Umfeld eines Menschen vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte und seiner Bedürfnisse bewerten (z.B.: „Ich fühle mich glücklich“ „Ich fühle Trauer“).
  • Von Gefühlen sprechen wir im Alltag aber auch häufig, wenn wir körperliche Empfindungen im Sinne von physikalischen Körpersensationen meinen (z.B. „Meine Füße fühlen sich kalt an“ „Ich fühle, dass mein Nacken angespannt ist“).
  • Darüber hinaus sprechen wir alltagssprachlich von einem Gefühl, wenn damit eine Intuition, also ein Signal aus dem Unbewussten, gemeint ist (z.B. „Ich habe das Gefühl, ich sollte mir mehr Ruhe gönnen“ „Ich fühle mich zu ihm/ihr hingezogen“).
  • Umgangssprachlich spricht man manchmal von Gefühlen, wenn eigentlich projektive Pseudogefühle gemeint sind, also indirekte Bewertungen, Einschätzung oder Beurteilung des Verhaltens anderer Menschen (z.B. „Ich habe das Gefühl, du willst gar keine feste Beziehung“ „Ich habe das Gefühl, du bist eingeschnappt“).

Somatische Marker

Nach der James-Lange-Theorie der Emotionen (benannt nach dem US-amerikanischen Psychologen und Philosophen William James [1842-1910] und dem dänischen Physiologen Carl Lange [1834-1900]) entstehen Gefühle aus der inneren Wahrnehmung von Körperprozessen. In der Tradition dieser Theorie hat der Neurowissenschaftler Antonio Damasio (* 1944) eine neurobiologische Theorie der Gefühle entwickelt (Damasio 1994, 2000, 2005). In ihrem Zentrum steht die Hypothese der „somatischen Marker“. Nach Damasio werden Wahrnehmungen im Gehirn in einer Vielfalt von neuronalen Netzwerken und – sofern sie bewusst werden – im präfrontalen Cortex verarbeitet. Zwischen diesem und dem limbischen System werden Wahrnehmungen und Vorstellungsbilder mit den Bedürfnissen und Werten des Menschen abgeglichen. Vermittelt über das motorische, das vegetative und das endokrine System werden dann im Körper spezifische „somatische Zustände“ und Handlungsbereitschaften erzeugt. Diese werden dem Gehirn durch die innere Körperwahrnehmung („Propriozeption“) zurückgemeldet und im präfrontalen Cortex als „Gefühle“ wahrgenommen.

Begriffliche Klarheit

In der Psychotherapie ist es wichtig, die unterschiedlichen Verständniszusammenhänge des Begriffes „Gefühl“ klar zu unterscheiden.

Beispiel: Eine Teilnehmerin einer Therapiegruppe sagt zu einer anderen: „Ich fühle mich von dir abgelehnt. Ich habe das Gefühl, du bist sauer auf mich.“ (Sie benennt Pseudogefühle, die in Wirklichkeit Interpretationen bzw. Projektionen sind.) Ich sage zu ihr: „Du sprichst nicht über deine Gefühle, sondern du interpretierst die Situation. Ablehnung, das ist das, was du glaubst, dass XY (die andere Gruppenteilnehmerin) dir gegenüber empfindet. Du glaubst, dass sie sauer auf dich ist. Im Grunde sind das Aussagen über sie, nicht über dich.“ Die Teilnehmerin sagt: „Na ja, ich fühle mich eben so, wie soll ich das anders ausdrücken?“ Ich bitte sie, mit ihrer Aufmerksamkeit nach innen zu gehen und wahrzunehmen, was sie in ihrem Inneren spürt, wenn – nach ihrem Eindruck – XY sie ablehnt und sauer auf sie ist. Die Teilnehmerin sagt: „Mir ist kalt. Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen.“ Ich sage zu ihr: „Du benennst jetzt, wie du deinen Körper physikalisch wahrnimmst. Kannst du spüren, was das emotional bedeutet, was du gerade in deinem Körper spürst?“ Die Teilnehmerin spürt eine Weile nach, dann sagt sie: „Ich glaube, ich bin zornig.“ Ich frage weiter: „Wenn du in dein Inneres hineinspürst, was du dir eigentlich wünschst von oder mit XY … was erscheint dann in deinem Inneren?“ Wieder spürt die Teilnehmerin nach, dann sagt sie: „Ich sehe ein verwundetes Herz hinter einer Mauer.“ Ich frage: „Kannst du dir vorstellen, was das emotional bedeuten könnte?“ Sie antwortet: „Ich glaube, ich fühle mich gekränkt und habe mich zurückgezogen. Aber eigentlich möchte ich mit XY in Kontakt kommen.“ Die Teilnehmerin hat sich Schritt für Schritt von projektiven Pseudogefühlen über physikalische Empfindungen zu Emotionen und Intuitionen vorangetastet.

Wenn Sie mehr darüber erfahren wollen, können Sie mein Buch „Humanistische Psychotherapie“ oder die Bücher von Antonio Domasio zum Thema lesen.

Werner Eberwein