Was ist Übertragung?

Der Begriff Übertragung kommt ursprünglich aus der Freud’schen Psychoanalyse, er wird aber heute auch von Therapeuten anderer Schulen verwandt. Man versteht darunter die Gefühle und Einstellungen des Patienten dem Therapeuten gegenüber, sofern diese von alten Mustern des Patienten geprägt sind. Unter Gegenübertragung versteht man entsprechend die Gefühle und Einstellungen des Therapeuten dem Patienten gegenüber, sofern sie von alten Mustern des Therapeuten geprägt sind.

In manchen Schulen der Psychoanalyse werden die beiden Begriffe stark aufgeweitet angewandt, und man versteht darunter alle Prozesse, die sich in der therapeutischen Beziehung zwischen Therapeut und Patient abspielen. (Meines Erachtens wird dadurch aber mehr unklar als klar.)

Man könnte sagen, dass Übertragung eine bestimmte Sichtweise auf zwischenmenschliche Beziehungen ist. Wenn man das, was sich zwischen zwei Menschen abspielt, im Hier und Jetzt betrachtet, also als Begegnung zweier erwachsener Menschen, dann sieht man die Ebene der Beziehung. Wenn man das, was sich zwischen ihnen abspielt, vor dem Hintergrund früherer (besonders kindlicher und frühkindlicher) Erfahrungen betrachtet, dann sieht man Übertragungsprozesse. Man kann also die selbe Interaktion im Hier und Jetzt als Beziehung oder in Bezug auf das Dort und Damals als Übertragung betrachten.

Manche Beziehungsprozesse sind im Hier und Jetzt nicht zu verstehen, sondern nur dann, wenn man sie als Neuauflagen alter Beziehungskonstellationen versteht. Beispielsweise wenn sich jemand immer wieder in ähnliche, unlösbare Konfliktkonstellationen verwickelt. Diese dann als Neuauflagen alter Beziehungsverstrickungen zu verstehen, wird als Deutung bezeichnet.

Übertragungen sind in der Regel nicht oder nur teilweise bewusst – besonders die grundlegenden Dynamiken aus der Babyzeit. Der Prozess der Deutung besteht darin, dass Therapeut und Patient gemeinsam die Zusammenhänge zwischen den aktuellen und den kindlichen Beziehungsdynamiken des Patienten erkunden. Dabei kann die aktuelle Übertragung des Patienten auf den Therapeuten genutzt werden, um die alten Dynamiken zu verstehen. Dieser Prozess ist nicht einfach zu handhaben, weil Therapeut und Patient Übertragungsprozesse untersuchen, während sie zwischen ihnen aktiviert sind. Daher erfordert die Arbeit mit Übertragungen eine besondere Ausbildung sowie viel Eigentherapie des Therapeuten.

Die Übertragung zum Therapeuten ist nicht nur ein Hindernis der Therapie (weil die Gefühle des Patienten dem Therapeuten gegenüber zwiespältig werden), sondern sie ist ein wertvolles Hilfsmittel der Therapie. Man kann die Übertragungsprozesse als eine Art Zeitmaschine verstehen, weil alte Konstellationen im Hier und Jetzt unmittelbar erfahren werden. Um damit konstruktiv therapeutisch umzugehen, ist es erforderlich, dass der Therapeute seine eigenen Übertragungsneigungen durch Eigentherapie so weit bearbeitet hat (und immer weiter bearbeitet), dass sie den therapeutischen Raum nicht dominieren.

Übertragungen kommen überall vor, auch im Alltag, insbesondere in nahen Beziehungen (Familie, Partnerschaft). Es können sowohl liebevolle und konstruktive Gefühle und Einstellungen übertragen werden (z.B. die Fähigkeit, sich auf eine Nähe einzulassen) als auch aggressive und konflikthafte alte Beziehungskonstellationen (z.B. alte Verletzungen oder Mangelsituationen).

Werner Eberwein