Was ist Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?

Tiefenpsychologie ist die Sammelbezeichnung für psychologische Theorien und Methoden in denen unbewusste Prozesse im Mittelpunkt stehen.  Tiefenpsychologische Richtungen sind z.B.

  • Psychoanalyse nach Freud und seinen Nachfolgern,
  • Ananalytische Psychologie nach Jung,
  • Individualpsychologie nach Adler.

Weniger bekannte tiefenpsychologische Ansätze sind z.B.

  • Tiefenpsychologie nach Schultz-Henke
  • Dynamische Psychotherapie nach Dührssen
  • Daseinsanalyse nach Binswanger
  • Dynamische Psychiatrie nach Ammon
  • Schicksalsanalyse nach Szondi
  • Psychoanalytisch-interaktionelle Psychotherapie nach Heigl
  • Anthropologisch-integrative Psychotherapie nach Caruso

Im Rahmen der Krankenkassenfinanzierung spricht man nach den Psychotherapie-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) von „Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie“ als eigenem Verfahren in Abgrenzung zur Psychoanalyse. Die Trennung zwischen Psychoanalyse und Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie ist jedoch umstritten und wird vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie als inhaltlich nicht haltbar betrachtet. Der Wissenschaftliche Beirat fasste daher 2004 die beiden Richtungen unter dem Oberbegriff „Psychodynamische Verfahren“ zusammen, was sich aber in Bezug auf die Kassenfinanzierung („sozialrechtliche Regelung“) bisher nicht durchgesetzt hat. Daher verwende ich im Folgenden den sozialrechtlich gebräuchlichen Begriff „Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP)“.

In Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien werden die psychischen Prozesse als bestimmt von einem unbewussten Kräftespiel (Psychodynamik) betrachtet, in dem Triebe oder andere motivationale Prozesse im Zentrum stehen, die das Seelenleben mit Energie ausstatten. Für Freud stand der Sexualtrieb im Zentrum, Jung ging von einer unspezifischen Energie aus, Adler vom Machtstreben als zentraler Motivation des Menschen.

In der TP geht man davon aus, dass Beziehungserfahrungen in der frühen Kindheit entscheidend für das erleben und Verhalten des Erwachsenen sind. Bestimmte Anteile des Unbewussten, die sich aufgrund von unverarbeiteten Konflikt- oder Mangelsituationen in der frühen Kindheit herausgebildet haben, werden als unerträglich empfunden und müssen daher abgewehrt werden.

Ein wichtiger Prozess der Abwehr wird als Verdrängung bezeichnet. Damit ist das „Hinausschieben“ von unerträglichen Gefühlen und Erinnerungen aus dem Bewusstsein in das Unbewusste hinein gemeint.

Das Unbewusste ist unter anderem charakterisiert durch

  • Alogik – die Gesetze des logischen Verstandes gelten hier nicht, vielmehr gelten traumhafte, assoziative „primärprozesshafte“ Gesetzmäßigkeiten,
  • Widersprüchlichkeit – im Unbewussten können logische Gegensätze identisch sein, Elemente können ihr eigenes Gegenteil bedeuten,
  • Zeitlosigkeit – bestimmte Prozesse im unbewussten sind wie „eingefroren“ in der Zeit, d.h. sie haben keinen Bezug zu zeitlichen Veränderungen.

Von Übertragungen spricht man, wenn jemand Erwartungen, Wünsche, Befürchtungen oder Vorstellungen, die sich in früheren wichtigen Beziehungen gebildet haben, an eine Person der gegenwärtigen Zeit (beispielsweise an den Analytiker) richtet. Als Gegenübertragung bezeichnet man die emotionalen Reaktionen eines Analytikers auf den Analysanden. Diese werden von einem tiefenpsychologischen Psychotherapeuten beobachtet, reflektiert und in Form von Hier-und-Jetzt-Deutungen für den therapeutischen Prozess genutzt.

Unterschiede zur Psychoanalyse:

  • eine Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie findet im Gegenübersitzen statt (der Patient liegt also nicht auf der Couch, wie in der Psychoanalyse),
  • in der TP geht es zentral um aktuelle Konflikte des Patienten, die „im Hier-und-Jetzt“ gedeutet werden (im Unterschied zu primär biografischen Deutungen in der Psychoanalyse),
  • Regressions- und Übertragungsprozesse des Patienten werden reflektiert und gedeutet (vom Therapeuten aber nicht gefördert oder eingeladen, wie in der Psychoanalyse),
  • eine TP findet in der Regel einmal die Woche statt (statt 3-5 mal die Woche wie in der Psychoanalyse),
  • für TP werden von den gesetzlichen Krankenkassen maximal 100 Sitzungen übernommen (statt bis zu 300 Sitzungen für Psychoanalyse).

De facto werden in Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien vielfältige Verfahren angewandt, z.B. Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie, Psychodrama, Hypnotherapie oder Körperpsychotherapie. Besonders bei Ärzten beliebt ist die Anwendung des Autogenen Trainings und der Katathym-Imaginativen Psychotherapie.

Werner Eberwein