Was ist eine Reifikation?

Reifikation (gesprochen Re-ifikation mit Betonung auf dem „e“, auch Reifizierung) bedeutet Vergegenständlichung. Das Wort kommt vom lateinischen res = Sache und facere = machen. Gemeint ist eine geistige Operation, in der ein Prozess, eine Abstraktion oder ein Erleben so betrachtet und behandelt wird, als ob es ein konkreter Gegenstand sei.

Reifikationen sind in unserer Sprache und unserem Denken allgegenwärtig. Oft ist das nicht weiter problematisch, weil wir daran gewöhnt sind, in anschaulichen Bildern zu denken. An bestimmten Stellen führt das jedoch zu geistigen Verwirrungen, aus denen man kaum mehr herausfindet, wenn man das Prinzip der Reifikation nicht versteht.

Ein schönes, veranschaulichendes Beispiel ist das Gedicht, das Erich Kästner „Sokrates zugeeignet“ genannt hat:

Es ist schon so: Die Fragen sind es,
aus denen das, was bleibt, entsteht.
Denkt an die Frage jenes Kindes:
‚Was tut der Wind, wenn er nicht weht?‘

Ja, was tut der Wind, wenn er nicht weht? Für ein Kind ist das eine logische Frage. Eben gerade hat er noch geweht, „der Wind“, jetzt ist er weg. Wo ist er denn hin? Wenn ein Kind hört, dass die Erwachsenen über „den Wind“ reden, den man ja offensichtlich auf der Haut spüren kann, der die Blätter bewegt, und der einem die Haare ins Gesicht pustet, dann scheint das offensichtlich ein Etwas (früher hätte man gesagt, ein jemand) zu sein, das das „macht“. Und das ist dann offensichtlich „der Wind“. Nun ist er weg, der Wind. Wo ist er hin?

Einem Kind muss man dann erklären, dass Wind darin besteht, dass Luft sich bewegt. Nun ist es für ein Kind zunächst nicht ohne weiteres klar, was eigentlich Luft sein soll, bzw. dass es die überhaupt gibt. Ein Kind ist sich zunächst nicht bewusst, dass es Luft atmet, sondern nur, dass es einfach atmet. Dann muss Mama zum Beispiel auf die Hand des Kindes pusten und ihm sagen: „Siehst du, das ist Luft.“ Und dann muss das Kind noch lernen, das zu abstrahieren, also nicht zu denken, Luft sei wenn Mama auf seiner Hand pustet.

Auch ist es für ein Kind nicht ohne weiteres ersichtlich, dass Luft eine Art Gegenstand sein soll, wo man Luft doch weder sehen noch anfassen kann. Luft ist ja offensichtlich nicht so etwas wie ein Hund oder ein Malstift. Für ein Kind, das darüber noch nicht nachgedacht hat, ist in einem Luftballon nicht Luft, sondern das ist einfach ein Luftballon, in dem man vielleicht hineingepustet hat.

Der Begriff „der Wind“ ist in diesem Fall eine Reifikation. Wir sprechen (und denken manchmal auch) so, als ob der Wind ein Etwas sei, das etwas macht, zum Beispiel Blätter herumwirbeln, Wolken am Himmel herumschieben, im Extremfall Dächer abdecken usw. In früheren Zeiten führte die Reifikation des Windes zu Vorstellungen eines Windgottes. Die Reifikation des Windes findet ihren Ausdruck auch in diesen alten Bildern, wo der Wind zum Beispiel in Form einer Wolke dargestellt wird, die mit vollen Backen Luft auf die Welt pustet.

Im Bereich von Psychologie und Psychotherapie können solche Reifikationen manchmal hilfreich sein, in anderen Fällen, führen sie zu Verwirrungen. Dies beispielsweise bei dem zentralen Begriff der Psychologie, nämlich beim Begriff der Psyche (in jeweils unterschiedlichen Definitionen und Abgrenzungen auch als Geist, Seele, Ich, Bewusstsein, Person, Subjekt, Identität, Selbst, Wesen, Kern, Existenz oder Essenz bezeichnet).

Im christlichen Mittelalter ging man davon aus, dass die Seele zwar immateriell, aber dennoch irgendwie ein Etwas sei, das den Körper bewohnt wie ein Mieter eine Wohnung. Wenn man die Seele als ein Etwas versteht, dann liegt natürlich die Frage nahe, wo, also an welchem Ort sich dieses Etwas befindet, und ob es sich eventuell auch woanders befinden könnte.

Ein Stuhl, ein Baum, ein Haus, ja sogar der Klang einer Musik oder ein Lichtstrahl kann ja sowohl hier als auch dort sein, also muss die Seele offenbar irgendwo sein, könnte aber vielleicht auch woanders sein. Also ging man davon aus, dass die Seele sich im Körper befindet, solange ein Mensch lebt und aus ihm herausschlüpft wenn dieser stirbt und sich dann je nach vorausgegangener Lebensweise in Richtung Himmel oder Hölle auf den Weg macht.

Ein Etwas kann seine Form verändern, aber es verschwindet nicht. Ein Baum kann umgewandelt werden in ein Brett und übrig gebliebene Sägespäne, aber er löst sich nicht einfach in nichts auf. Also schien es folgerichtig, dass auch die Seele des Menschen nach dem Tod nicht einfach verschwindet, sondern sich als immaterielles Etwas an einen Ort begibt, wo sie sich dann im Weiteren aufhält.

Das Bewusstsein des Menschen verortete man in früheren Zeiten zeitweise im Herzen mit der einfachen Argumentation, dass es offensichtlich verschwindet, sobald das Herz nicht mehr funktioniert. Als man herausfand, dass das Herz ein komplexer Muskel ist und sonst nichts, verortete man das Bewusstsein im Gehirn.

Das Herz gilt in der Populärpsychologie allerdings weiterhin als Ort der Gefühle. Als Beweis dafür wird angeführt, dass man es als Stich in der Herzgegend spürt, wenn man von einer geliebten Person verlassen oder verrraten wird. Viele gefühlsbezogene Metaphern und Redewendungen haben mit dem Herzen zu tun: „das hat mir das Herz gebrochen“, „er ist ein herzloser Mensch“, „sie hat ein weites Herz“, „mein Herz hüpft vor Freude“ usw. Folgerichtig werden in der Populärpsychologie Herzkrankheiten oft mit emotionalen Problemen bzw. Traumata in Verbindung gebracht, obwohl diese einem ebenso gut „an die Nieren gehen“ oder „auf den Magen schlagen“ oder dazu führen können, dass man „auf dem Zahnfleisch geht“.

Unterstützt von der modernen Hirnforschung glauben viele Menschen in letzter Zeit, man könne psychische Funktionen, wenn nicht im Körper, so doch zumindest im Gehirn lokalisieren:

Hier ist das Unterbewusstsein, dort das moralische Empfinden, hier das Sprachzentrum, dort befinden sich die archaischen Emotionen, ein wenig höher die kulturell adaptierten Gefühle, hier befindet sich das episodische, dort das biografische Gedächtnis, hier das Belohnungszentrum und dort die Impulssteuerung.“ Auf diese Weise entsteht eine funktionale Kartographie des Gehirns, die den Anschein erweckt, das Gehirn sei aus einer Reihe von räumlich eingrenzbaren Funktionsbausteinen zusammengesetzt, die einen spezifischen Ort haben und die über im Mikroskop erkennbare Faserverbindungen miteinander verbunden sein.

Diese Vorstellung erhält ihre scheinbare Evidenz vor allem durch die Folgen spezifischer Hirnverletzungen und Hirnreizungsexperimente und durch bildgebende Verfahren, in denen je nach Beschäftigung des Gehirns an bestimmten Stellen bunte Flecke aufleuchten.

So wird beispielsweise die Empathie in einem ganz bestimmten Zelltyp, den berühmten Spiegelneuronen im motorischen Kortex, verortet. Das klingt zunächst einmal super, weil damit ja bewiesen wäre, dass unser Gehirn schon auf einer biologischen Ebene empathisch funktioniert. Wenn man sich jedoch bewusst macht, was Empathie eigentlich ist, wird schnell klar, dass sie unmöglich durch die Arbeitsweise einzelner Zellen erklärt werden oder sogar darin verortet sein kann.

Ein Patient erzählte mir kürzlich, dass sein Vater wegen Betruges zu einer mehrjährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden sei. Wenn ich versuche, mich als Therapeut empathisch in diesen Patienten hineinzuversetzen, ist mir die Lebensgeschichte des Patienten im Hintergrund gegenwärtig. Ich weiß, dass man zu einer Gefängnisstrafe bei Betrug nur in einem besonders schweren oder Wiederholungsfall verurteilt wird. Mir ist bewusst, in welche schwierige Situation der Patient kommt, der selbst sehr viel Wert auf die Einhaltung sozialer Regeln legt. Ich muss mir dabei bewusst sein, was soziale Regeln sind, und was deren Einhaltung im Allgemeinen und für diesen speziellen Patienten bedeutet. Mir ist bewusst, dass seine Mutter sich vor Jahren vom Vater getrennt hat. Ich weiß, dass der Vater für den Patienten als Kind ein Vorbild war, dass er ihn immer bewundert hat und bis heute liebt, und wie schwer es für ihn ist, zu ertragen, was nun mit seinem Vater passiert. Ich muss von vorn herein über ein sprachlich organisiertes kognitives Begriffssystem verfügen, um überhaupt zu verstehen, was der Patient mir gerade mitgeteilt hat. Es gibt noch endlos viele weitere Aspekte und Ebenen, die in meine Empathie mit diesem Patienten eingehen.

Spätestens hier wird klar, dass Empathie unmöglich von einem spezifischen Zelltyp im motorischen Kortex realisiert werden kann. Empathie ist ein komplexer intersubjektiver Prozess, der zwar biologische (ebenso wie chemische, physikalische usw.) Prozesse voraussetzt, aus diesen aber nicht erklärbar ist. Empathie ist kein Ding, kein Gegenstand, kein Etwas, das irgendwo seinen Ort hätte oder haben könnte. Ebenso ist auch beispielsweise „das Unterbewusstsein“, „die Angst“, „die Moral“, oder „die emotionale Bewertung“ kein Etwas, kein Gegenstand und kann daher nirgendwo lokalisiert werden, auch nicht in spezifischen Hirnregionen.

Die auf den ersten Blick so beeindruckenden Bilder aus den neurobiologischen Bildgebungsverfahren wie fMRT oder PET bedeuten ja keineswegs, dass beispielsweise beim Hören spezifischer Begriffe im Scanner nur die spezielle Hirnregion aktiv wäre, die in der Bildauswertung als aktiv angezeigt wird. Vielmehr handelt es sich bei diesen vielfach veröffentlichten Abbildungen um das Ergebnis hochkomplexer Rechenoperationen, oft auf Basis einer Vielzahl von Einzelaufnahmen von einer Vielzahl von Versuchspersonen, in die eine Vielfalt von voreingestellten Parametern eingegeben wurden, die unter anderem bestimmte Schwellenwerte beinhalten. Wenn etwas leuchtet, heißt das beispielsweise, dass im Durchschnitt von 40 Probanden an der Stelle X im Gehirn im Zeitraum Y die Aktivierung ein winziges Bisschen höher oder anders war als im umgebenden Gehirngewebe.

De facto ist das Gehirn ständig überall aktiv und auf eine so komplexe Weise vernetzt und in ständiger Veränderung begriffen, dass wir noch nicht einmal den Ansatz einer Vorstellung haben, wie das Gehirn funktioniert und ob der Begriff „funktionieren“ überhaupt eine angemessene (reifizierende) Metapher für das ist, was im Gehirn passiert.

Wir sehen, wie leicht es ist, uns auf die Fährte einer Reifizierung zu locken, wie evident diese sich zunächst anfühlt und wie resistent wir dann dagegen sind, selbst absurde Schlussfolgerungen aus dieser geistigen Operation zu hinterfragen.

Werner Eberwein