Was ist Phänomenologisches Verstehen?

Humanistische Psychotherapie kann verstanden werden als verstehende Auseinandersetzung, als Verstehen von Auseinandersetzungen, als Auseinandersetzung um zu Verstehen, als Veränderung durch Verstehen und als Hilfe zum Selbstverstehen.

Patienten kommen zur Therapie, wenn sie unter etwas leiden, das sie nicht verstehen. Sie fühlen sich eigenen Gefühlen und Reaktionen ausgeliefert. Innere Konflikte, Mangelzustände und leidvolle Identifizierungen werden in der humanistischen Psychotherapie verarbeitet, indem Patient und Therapeut gemeinsam versuchen zu verstehen, worum es eigentlich geht. Dabei bemüht sich ein humanistischer Psychotherapeut, in seinem Verstehen nahe am Erleben des Patienten und an seinem eigenen Erleben zu bleiben (Rogers 2014).

In der humanistischen Psychotherapie wurde ein aus der Existenzphilosophie stammender Ansatz entwickelt, der die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Verstehens von fremden Anteilen des eigenen Selbst und des Verstehens einer anderen Person in ihrer unhintergehbaren Andersheit beschreibt. Dieser Ansatz wird als phänomenologische Hermeneutik bezeichnet (Gander 2006).

  • Unter Hermeneutik versteht man eine Theorie des Verstehens, Interpretierens oder Auslegens. Im Rahmen der Psychotherapie ist damit die Frage angesprochen wie, inwieweit und wozu Patient und Therapeut gemeinsam das Erleben und Handeln des Patienten zu therapeutischen Zwecken verstehen können, welche Schwierigkeiten dabei auftreten, und wie damit umgegangen werden kann. Das Feld, auf dem sich die psychotherapeutische Hermeneutik abspielt, ist die Kommunikation zwischen Patient und Therapeut. Das Ziel der psychotherapeutischen Hermeneutik ist es, auf kommunikativen Wege den Sinn des Erlebens des Patienten und der ko-kreierten Interaktionsinszenierungen zu erfassen (Gadamer 2010).
  • Die Phänomenologie ist eine philosophische Richtung, die versucht, Erkenntnisse zu gewinnen, indem sie nahe bei den unmittelbar gegebenen Erscheinungen und Wahrnehmungen (den Phänomenen) bleibt. Vorannahmen (also Theorien, Konzepte, Vorwissen, Eigenerfahrungen usw.) werden zunächst so weit wie möglich beiseitegelassen oder zumindest auf reflektierende Weise kontrolliert. In der Psychotherapie bedeutet ein phänomenologischer Ansatz, sich so weit wie möglich an dem unmittelbaren Erleben (den Gedanken, Gefühlen, Phantasien, Wünschen und Bedürfnissen usw.) des Patienten und des Therapeuten zu orientieren und dem Patienten nicht Theorien, Konzepte, Projektionen oder Deutungen überzustülpen (Fellmann 2015, Zahavi 2007, Merleau-Ponty 1966).

In einem radikalen Sinn würde ein phänomenologischer Ansatz bedeuten, strikt bei dem zu bleiben, was Patient und Therapeut unmittelbar erleben und was sie verbal und nonverbal äußern, also ausschließlich auf der Ebene der Erscheinungen, der Phänomene zu bleiben. In reiner Form ist das in der therapeutischen Praxis weder möglich noch wünschenswert. Patient und Therapeut haben unweigerlich Hintergrunderfahrungen und Hintergrundwissen, das sie unmöglich ignorieren, und wovon sie sich unmöglich distanzieren können.

Beispiel: Ein schwer traumatisierter Patient ist vor den Kriegswirren aus Syrien geflüchtet. Er berichtet in der Therapie von verstörenden Erfahrungen in seiner zerstörten Heimat und auf seiner Flucht, von Folter und Morden, Bombardierungen, ertrinkenden Freunden, Bedrohtwerden an Leib und Leben, wochenlangen Fußmärschen und fremdenfeindlichen Übergriffen. Der Therapeut kann unmöglich vermeiden, dass er an Fernsehberichte, Bücher, Bilder und Filme über Kriege und Diktaturen, an Kriegserzählungen seiner Eltern, an Zeitungsmeldungen von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen, über Brandanschläge auf Flüchtlingsheime, islamistischen Terror usw. erinnert wird.

Patient und Therapeut kommunizieren miteinander primär auf sprachliche Weise. Sie können nicht anders als Begriffe zu benutzen. Begriffe sind nicht einfach Worte, die bloße Erscheinungen bezeichnen, sondern Verallgemeinerungen kollektiver Anschauungen, die Teil eines spezifischen Weltverhältnisses, einer Weltanschauung sind. So bedeuten z.B. Begriffe wie „Familie“, „Glaube“ oder „Sicherheit“ für einen syrischen Flüchtling etwas zum Teil anderes als für einen Psychotherapeuten, der in einer geschützten Intellektuellenfamilie im säkularen Westeuropa aufgewachsen ist.

Selbst wenn der Patient gar nichts sagt, sondern ihm nur eine Träne über die Wangen läuft, wenn er erbleicht oder errötet, seine Haltung erstarrt oder seine Stimme zittert, verbindet sich damit im Patienten ein komplexes Netz aus Assoziationen und Bedeutungen, und ebenso im Therapeuten.

Phänomenologie bedeutet hier, dass der Therapeut versucht, seine eigenen Vorannahmen, Konzepte und Assoziationen zunächst soweit wie möglich außen vor zu lassen, bzw. beiseite zu stellen, um in die Lage zu kommen, den Patienten nicht im Raster seiner eigenen Erfahrungen, sondern als zunächst Fremden, als Anderen zu verstehen, der z.T. ganz andere Themen und Probleme, Begriffsgebäude, Beziehungsstrukturen, Wertvorstellungen usw. hat als der Therapeut.

In der phänomenologischen Hermeneutik geht man davon aus, dass der Mensch als Subjekt trotz und gerade wegen seines Anders-Seins in seinem Erleben nur von einem anderen Subjekt im Dialog verstanden werden kann. Dies geschieht auf Basis eines wohlwollenden Verstehen-Wollens durch ein Zunächst-nicht-Verstehen, Noch-nicht-Verstehen, Teilweise-Falsch-Verstehen oder Miss-Verstehen hindurch über ein Allmählich-besser-Verstehen und Sich-selbst-besser-Verstehen im positiven Fall hin zu erfüllenden und verbindenden Momenten des tiefen Den-anderen-Verstehens und Sich-verstanden-Fühles, in denen beide sich und einander nahekommen und sich „erkennen“ in der Wirklichkeit geteilten und mitgeteilten Erlebens.

Das fortgesetzte Bemühen des Therapeuten, den Patienten mehr und mehr zu verstehen, unterstützt diesen dabei, sich selbst besser zu verstehen, vorher Unverstehbares in sein Bewusstsein zu integrieren, sein emotionales Erleben mit seiner Vorstellung von sich selbst (seinem Selbstbild, seiner Identität) in Übereinstimmung zu bringen und sich kommunikativ besser vermitteln zu können, wodurch zwischenmenschliche und psychische Ambivalenzspannungen abgebaut werden können.

Werner Eberwein