Was ist Phänomenologie?

Als Phänomenologie wird eine der maßgeblichen philosophische Strömungen des 20. Jahrhunderts bezeichnet, die vor allem von Edmund Husserl (1859-1938) ausgearbeitet wurde. Bekannte Phänomenologen sind z.B. Max Scheler, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Lévinas, Paul Ricoeur und Jaques Derrida.

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RSS-Feed-ZeichenDie Phänomenologie hat Denker wie Theodor W. Adorno, Jaques Lacan, Hans-Georg Gadamer, Michael Foucault, Jürgen Habermas und viele andere beeinflusst (die sich z.T. auch kritisch mit ihr auseinandergesetzt haben). Sie war eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Hermeneutik (Gadamer), des Existenzialismus (Sartre) und der Dekonstruktion (Derrida), und sie hat die humanistische Psychotherapie entscheidend geprägt.

Das Wort Phänomenologie stammt vom altgriechischen Wort phainomenon: Sichtbares, Erscheinung. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) verstand in seinem Hauptwerk „Phänomenologie des Geistes“ unter Phänomenen die Gesamtheit aller Erscheinungen des Geistes im Bewusstsein und in der Geschichte.

Phänomenologen unterscheiden verschiedene Formen der Erkenntnis und bestreiten, dass die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise die einzige Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung ist. Eine phänomenologische Analyse arbeitet die Art und Weise heraus, wie wir subjektiv und intersubjektiv die Welt, uns selbst und andere Menschen aus der Ersten-Person-Perspektive erleben, was sich von einer objektivistischen (naturwissenschaftlichen) Betrachtung aus der Dritten-Person-Perspektive radikal unterscheidet.

Beispiel: In der Krebstherapie ist es üblich, Patienten zur imaginativen Unterstützung ihrer medizinischen Behandlung beizubringen, sich vorzustellen, wie die Killerzellen des Immunsystems oder die Zellgifte der Chemotherapie die Krebszellen auf aggressive Weise angreifen und zerstören. Solche Imaginationen gehen von einer objektivistischen, medizinischen Sichtweise aus. Ein Krebspatient selbst erlebt Orientierung auf Gesundwerden anders. Für ihn ist Gesundwerden kein aggressiver Akt, sondern ein Sich-Einstellen auf einen schönen, wohligen, ausgeglichenen Zustand. Die Förderung von Aggressivität stärkt die Abwehrbereitschaft des Körpers nicht, sondern schwächt sie. Zellbiologisch betrachtet erscheinen Immunprozesse wie „Angriffe“ gegen Krebszellen, subjektiv werden sie als Harmonisierung und Wohlbefinden erlebt.

Die Phänomenologie Husserls geht auf die deskriptive Psychologie von Franz Brentano (1838-1917) zurück, der den „intentionalen“ Charakter aller Bewusstseinsakte hervorhob. Damit ist gemeint, das Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. Alle Bewusstseinsakte stehen immer in Beziehung auf einen Inhalt, sind gerichtet auf einen (materiellen oder immateriellen, realen oder bloß vorgestellten) Gegenstand. In jeder Vorstellung ist etwas vorgestellt. In jedem Urteil ist etwas anerkannt, in der Liebe geliebt, im Hass gehasst, im Gefühl gefühlt, im Begehren begehrt. Dieser „intentionale“ Charakter ist eigentümlich für psychische Phänomene – kein physikalisches Phänomen zeigt diese Eigenschaft.

Auf dieser Basis konnte Husserl eine Philosophie entwickeln, in der die alte Spaltung zwischen Idealismus und Materialismus neu definiert wurde. Weil subjektive Inhalte auf Objektives gerichtet sind (bzw. sein können) und unsere Auffassung von Wirklichkeit immer eine subjektive Perspektive beinhaltet, sind Subjekt und Objekt (Bewusstsein und materielle Welt) von vornherein verbunden. Dennoch erleben wir die („intendierten“) Dinge der Welt als von uns als Bewusstsein Verschiedenes, also unabhängig von unserem Bewusstsein, also als äußere Welt. Weil wir Wirklichkeit unweigerlich perspektivisch wahrnehmen, bleiben uns stets Aspekte der Wirklichkeit auch verborgenen (Husserl nennt das „Abschattung“).

Husserl betont, dass wir den faktischen Gegebenheiten unweigerlich einen subjektiven Sinn zusprechen und sie unter einer subjektiven (räumlichen, psychologischen, historischen, sozialen usw.) Perspektive betrachten. Wir erleben die Welt, uns selbst, andere Menschen und unsere Beziehungen nicht als objektive, faktische Gegebenheiten, sondern als bedeutungsvoll und somit auch als emotional bewertet. Daher können wir uns auch täuschen, aber auch erkennen, dass wir einer Täuschung erlegen waren.

Beispiel: Ein Patient von mir, ein 37jähriger Immobilienmakler, erhält einen Brief in einem knallroten Umschlag mit mehreren aufgeklebten Herzchen darauf. Seine Frau macht ihm die Hölle heiß, weil sie glaubt, der Mann habe eine Geliebte, die sich in ihrer Ehe hineindrängen wolle. Der Mann öffnet den Brief und zeigt seiner Frau, dass er von seiner Schwester stammt, die ihn in etwas beschwipstem Zustand aus dem Urlaub geschickt hat. Seine Frau wird sich ihrer Täuschung bewusst. Die Bedeutung des Briefes schlägt um, er erhält für die Frau einen anderen Sinn.

Husserl war der Meinung, dass wir, wenn wir vorurteilsfrei unsere Erkenntnisweise von der Welt erfassen wollen, zunächst von allen Vorannahmen, Theorien und Selbstverständlichkeiten absehen müssen, damit „die Sachen selbst“ zum Vorschein kommen, so wie sie sind. Er nannte diese Methode „Epoché“ (ein alter Begriff für „Enthaltung“, „Innehalten“). Das vorläufige „Einklammern“ aller Vorannahmen und Vormeinungen nannte Husserl „eidetische Reduktion„.

In der humanistischen Psychotherapie wird keineswegs die gesamte, sehr differenziert und komplex ausgearbeitete phänomenologische Philosophie inklusive ihrer komplizierten Sprache verarbeitet. Vielmehr findet hier vor allem die grundlegende Idee Berücksichtigung, vorsichtig mit allzu „wissenden“ Deutungen und theoretischen Einordnungen zu sein. Das ist die Grundlage für die Erlebnisorientierung der humanistischen Psychotherapie sowie im weiteren Sinn für ihre Emotionsfokussierung.

Ein humanistischer Psychotherapeut bemüht sich, so weit wie möglich auf unhinterfragte theoretische Vorannahmen zu verzichten und das Erleben des Patienten sowie die Interaktion zwischen dem Patienten und ihm so weit wie möglich als das zu verstehen, was in diesem Moment stattfindet ohne etwas „hineinzuinterpretieren“. Diese Orientierung wurde in der frühen Gestalttherapie mit dem Schlagwort „Ich und du im Hier und Jetzt“ bezeichnet. Es war eine polemische Abgrenzung vor allem gegen den dogmatischen theoretischen Wasserkopf der damaligen Psychoanalyse.

Die Fokussierung auf das unmittelbare Geschehen „in diesem Moment hier zwischen uns“ inklusive einer gewissen Theoriefeindlichkeit wird heute in der humanistischen Psychotherapie so nicht mehr vertreten. Die phänomenologische Orientierung findet sich in der humanistischen Psychotherapie heute vor allem in der engen Bezugnahme auf das unmittelbare Erleben im therapeutischen Prozess und in einer kritischen Distanz gegenüber objektivierenden Zuschreibungen (z.B. Diagnosen, Deutungen) wieder.

Beispiel: In meinen Fortbildungen bitte ich die Teilnehmer manchmal, eine Diagnose nach dem ICD10 über sich selbst zu erstellen. Bei dem Versuch wird deutlich, wie das Einsortieren einer Person in diagnostische Kategorien an dieser Person vorbeigeht. Sich selbst fühlt man mit den ICD-Diagnosen nicht wirklich gemeint, obwohl sie in Bezug auf die Patienten (als aus der Dritten-Person-Perspektive) Sinn zu machen scheinen.

In der humanistischen Psychotherapie untersuchen wir das unmittelbare Erleben des Patienten, wobei der Therapeut auch mit seinem eigenen unmittelbaren Erleben in Kontakt ist. Humanistische Psychotherapie ist ein intersubjektiver Prozess. Was der Patient subjektiv erlebt und was der Therapeut subjektiv erlebt kann nicht voneinander getrennt verstanden werden. Es handelt sich um eine wechselseitige Beziehung, in der das Erleben des Patienten und das Erleben des Therapeuten miteinander auf vielerlei Ebenen interagieren und einander beeinflussen.

Ein humanistischer Psychotherapeut achtet dabei auf systematische Vermeidungen, sowohl beim Patienten als auch bei sich selbst. Durch Vermeidungen wird etwas aus dem Gewahrsein ausgeblendet, und solche Ausblendungen führen zu Nicht-Bewusstheit und tragen zur Aufrechterhaltung von psychischem Leid bei.

Beispiel: Eine 24 -jährige Erzieherin beginnt eine Therapiestunde mit den Worten: „Es ist einiges passiert in der letzten Woche, und ich habe darüber nachgedacht, wie es mir damit geht …“ Sie redet etwa 10 Minuten weiter über „Dinge“ die ihr „passiert“ sind, wie „es“ ihr damit geht und dass sie „darüber“ nachdenkt. Sie sagt aber nicht, was sie nun eigentlich erlebt hat, wie sie sich damit fühlt und was sie dazu denkt. Sie verbleibt auf einer abstrakten Ebene und benennt nicht, worum es geht. Das ist ein Muster von ihr, sie spricht oft so. Ich verstehe ihre Worte, aber ich verstehe sie nicht, ich finde keinen Zugang zu ihrem Erleben. Die Atmosphäre zwischen uns empfinde ich als gleichsam „wolkig“, wie in Watte gepackt, vernebelt, eigentümlich sachlich und emotionsarm. In mir selbst spüre ich eine Mischung aus einer gewissen emotionalen Unbeteiligtheit und einer inneren Unruhe. Ich sage zu der Patientin: „Halte bitte mal einen Moment inne. Du sprichst sehr abstrakt. Kannst du mir sagen, was genau gewesen ist in der Woche, und wie das für dich war?“

In der Phänomenologie wird unterschieden zwischen verschiedenen Perspektiven auf die Wirklichkeit und unterschiedlichen Zugangsweisen.

Beispiel: Wenn ein Statiker die Stabilität des Mauerwerks eines Hauses berechnet, so ist für ihn das Haus ein physikalisches Objekt, das mathematisch beschrieben werden kann und soll. Wenn jemand in diesem Haus eine Wohnung mieten will, so ist er vor allem an der Wohnqualität interessiert, also an Größe, Zuschnitt, Lage, Helligkeit usw. Der Makler wiederum, der dieser Person die Wohnung vermitteln will, sieht die Wohnqualität als Angebot in einem Geschäft, das er zu machen versucht. Derselbe Gegenstand wird unter verschiedenen Perspektiven in unterschiedlichen Qualitäten und mit unterschiedlichen Zugangsweisen unterschiedlich erlebt.

Dabei vertreten Phänomenologie keineswegs die Position, dass Realität durch unsere Wahrnehmung „konstruiert“ sei (wie beispielsweise die Vertreter des radikalen Konstruktivismus). Sie bestreiten nicht die Existenz einer realen Wirklichkeit, sondern sie unterscheiden lediglich unterschiedliche Blickwinkel darauf und Zugangsweisen dazu. Insbesondere wird eine spezielle Perspektive betont und hervorgehoben, die „Erste-Person-Perspektive“, die von der „Dritte-Person-Perspektive“ unterschieden wird.

Beispiel: Eine Frau spricht auf meinen Anrufbeantworter in der Praxis: „Ich wollte fragen, ob Sie Erfahrung mit Hypersensibilität haben.“ Mit diesem Begriff beschreibt sich die Frau selbst von außen wie ein Objekt. Sie versucht, eine bestimmte Erlebensweise mit einem Begriff zusammenzufassen, von dem sie glaubt, dass er mir möglicherweise vertraut ist (oder auch nicht). Sofern ich diesen Begriff als gegeben nehme, sehe ich diese Frau nun auch lediglich als einen Sonderfall der diagnostischen Kategorie „Hypersensibilität“. Ich lade Sie zu einem Vorgespräch ein. Darin beschreibt sie, dass sie häufig intensiv auf Reize reagiert, die den meisten anderen Menschen relativ gleichgültig zu sein scheinen und verdeutlicht das mit einer Reihe von Beispielen. Jetzt teilt sie mir mit, was sie erlebt und wie sie es erlebt. Ich sehe ihre etwas fahrigen Bewegungen, ihren manchmal etwas flackernden Blick, höre, wie ihre Stimme bei bestimmten Themen leicht zittert, spüre, wie ich dazu neige, den Atem ein wenig anzuhalten, leiser als sonst zu sprechen und sehr vorsichtig mit ihr zu sein. Ich erlebe mich aus der Ersten-Person-Perspektive und unseren Kontakt als intersubjektiven Prozess. Dieser wird durch die abstrakte Kategorie „Hypersensibilität“ nur vage und annäherungsweise erfasst.

Der phänomenologische Standpunkt versteht sich als Kritik einer erkenntnistheoretischen Einstellung, die nur das gelten lassen will, was naturwissenschaftlich (physikalisch-mathematisch) erfassbar ist. In der Psychologie ist dies insbesondere der zur Zeit wieder modisch gewordene neurophysiologische „eliminative Materialismus“, der behauptet, dass Bewusstseinsprozesse vollständig auf Hirnphysiologie reduziert und aus dieser verstanden werden könnten (selbst wenn die Hirnforschung diesen Anspruch in keiner Weise erfüllen kann). Aus phänomenologischer Perspektive ist dies ein szientistisches Selbstmissverständnis der Psychologie. Das bedeutet, dass eine Wissenschaft (die Psychologie), die sich mit intersubjektiven Bewusstseinsprozessen beschäftigt (oder zumindest beschäftigen sollte), sich selbst als Naturwissenschaft versteht und damit an ihrem eigentlichen Gegenstand, dem Subjekt und dem Intersubjektiven, vorbei forscht.

Die Phänomenologie betont, dass die Methodik einer Wissenschaft ihrem Gegenstand angepasst sein muss. Eine mathematisch-physikalische Reduktion des Psychischen (z.B. durch statistische Empirie oder durch Hirnscans) führt zu einer kategorialen Verwechslung des Gegenstands der Psychologie, damit zu einem Selbstmissverständnis der Psychologie als Wissenschaft. Psychologische Forschung, die statistische Empirie oder bildgebende Verfahren als „Königswege“ zu den Bewusstseinsprozessen betrachtet, ist blind für ihre eigene Perspektivität. Sie erkennt nicht, dass Hirnphysiologie, Skalierungen und Korrelationen lediglich naturwissenschaftliche Perspektiven auf das Bewusstsein darstellen. In der Konsequenz führen sie zu einer Verdinglichung der Subjektivität, die letztlich in Zahlenwerte (Potentialaktivitäten, Effektstärken, ICD 10-Kategorien, Resultate von Vergleichsstudien usw.) verwandelt wird.

Phänomenologisch betrachtet ist das Bewusstsein irreduzibel. Zwar können neurologische Prozesse untersucht werden, die die biologische Grundlage des Bewusstseins sind, aber das Bewusstsein und die Intersubjektivität kann aus diesen ebenso wenig erklärt werden, wie man den ästhetischen Charakter eines Gemäldes aus dessen chemischer Zusammensetzung erklären kann. Eine naturwissenschaftlich-objektivistische Auffassung des Bewusstseins eliminiert das Subjekt aus der Wissenschaft. Tatsächlich ist jedes Phänomen eine Erscheinung von etwas für jemanden, also bedeutungsvoll und damit emotional bewertet.

Beispiel: Was ist Wasser? Wenn wir diese Frage nur naturwissenschaftlich stellen, dann wären mögliche Antworten z.B.: Wasser ist chemisch betrachtet H2O, es existiert in drei unterschiedlichen Aggregatzuständen, es gefriert bei 0 Grad und kocht bei 100 Grad usw. Dies ist aber nur eine Perspektive von beliebig vielen. Für einen Koch kann Wasser z.B. ein Bestandteil einer Sauce sein. Für einen Wüstenbewohner ist es eine wertvolle Ressource zum Überleben. Für einen Gärtner ist es ein Mittel zur Pflege seiner Pflanzen. Für einen Schwimmer ist es das Medium, in dem er seinen Sport betreibt. Für einen Phänomenologen sind all diese Perspektiven gleichberechtigt, und die naturwissenschaftliche Perspektive ist nur eine unter beliebig vielen und den anderen weder überlegen noch vorzuziehen.

Phänomenologie untersucht insbesondere die Art, wie die Lebenswelt (das heißt unser alltägliches Leben) subjektiv (also für uns, für mich) erscheint und intersubjektiv (im Kontakt, im Gespräch, in der sozialen Interaktion) erlebt und ausgearbeitet wird. Ausgangspunkt ist dabei das unmittelbare Erleben, also die Erfahrung, die vor jeder sprachlichen oder wissenschaftlichen Erfassung liegt, das primäre Erleben.

Beispiel: Eine Patientin berichtet von einem Konflikt mit ihrem Freund am Abend zuvor: „Er hört mir einfach nicht zu, er sieht immer nur sich …“ Eine ganze Weile lang beschreibt sie, was ihr Freund gesagt hat, wie er sich dabei verhalten hat und was sie glaubt, warum er sich so verhält: „Er ist einfach ein totaler Egoist …“. Sie ist zu diesem Zeitpunkt weder mit ihrem eigenen unmittelbaren Erleben in Kontakt noch in empathischem Kontakt mit ihrem Freund. Sie beschreibt ihren Freund anklagend durch subjektiven Bewertungen (in diesem Fall Abwertungen), die sie zunächst für unzweifelhafte Wirklichkeit hält. Ich bitte sie, die Augen zu schließen, sich ihren Freund vorzustellen, in ihr Inneres hineinzuspüren, und zu erkunden, wie sie sich im Kontakt mit ihrem Freund fühlt. Sie ist zuerst sehr ärgerlich und spürt dann starke Traurigkeit. Nachdem wir das ausführlich erkundet haben, lade ich sie ein, sich versuchsweise in ihren Freund hineinzuversetzen. „In ihm“ spürt sie eine Angst, sich in der Beziehung zu verlieren und einen Wunsch, seine eigene Identität zu behaupten.

Wie schon Husserl, insbesondere aber Merleau-Ponty herausgearbeitet haben, ist der Mensch als Subjekt immer „inkarniert“, also Leib und nur als leibliches Wesen existent und verstehbar. Der Begriff „Leib“ wird in der Phänomenologie abgegrenzt von dem Begriff „Körper“. Unter „Körper“ versteht man die Dritte-Person-Perspektive auf unsere Leiblichkeit. Unter „Leib“ versteht man Körperlichkeit aus der Ersten-Person-Perspektive betrachtet.

Beispiel: Wenn ich mir die Fingernägel schneide, dann betrachte ich diese als Objekte, mit denen ich auf mechanische Weise umgehe, indem ich sie kürze bzw. abschneide. Wenn ich mir dabei in den Finger schneide, spüre ich den Schmerz als Leib.

Der Leib ist der Körper-der-ich-bin. Der Körper ist der Leib-als-Ding. Mein Leib ist für mich kein Ding unter Dingen, sondern, anders als alle anderen „Dinge“ der Welt, mir auf einmalige Weise gegeben. Auch wenn wir bestimmte Teile unseres Leibes (die Fingernägel, Gliedmaßen, bestimmte Organe) verlieren können, so sind wir doch niemals ohne Leib. Wir sind „inkarnierte“ also stets leibliche Subjekte.

Beispiel: Wenn ich mit der Hand mein Knie berühre, dann spüre ich das Knie mit der Hand, aber auch die Hand mit dem Knie. Ich nehme gleichzeitig mein Knie als Objekt aber auch meine Hand mit dem Knie als Subjekt war. Wenn ich einen Kugelschreiber in die Hand nehme, bleibt dieser immer Objekt. Ergreife ich die Hand einer anderen Person, spüre ich diese Person als Leib, und sie spürt zugleich mich-als-Leib mit sich-als-Leib. In ihrem Spüren werde ich als Leib-Subjekt gespürt. In meinem Spüren spüre ich sie als Leib-Subjekt. Prozesse dieser Art sind weder als Kontakt zwischen Objekten noch als Subjekt-Objekt-Prozesse, sondern nur als leibliche Intersubjektivität verstehbar.

Gleichzeitig geschieht Erleben immer auf Basis gesellschaftlicher, historischer und sozial-kultureller Tradition.

Beispiel: Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich nicht einfach (geometrisch) eine graue Fläche mit dunklen Rechtecken darin, sondern ich sehe eine Hauswand. Ich sehe nicht sich langsam bewegende Objekte in verschiedenen Grünschattierungen, ich sehe die Zweige eines Baumes, die sich im Wind wiegen. In meiner Wahrnehmung sind die Kategorien „Haus“ und „Baum“ bereits gegeben. Ich erlebe die Wirklichkeit als bedeutungshaft strukturiert und sprachlich kategorisiert.

Das Erleben anderer Subjekte und der Prozesse zwischen Subjekten ist eine spezielle Form des Erlebens. Intersubjektivität wird ermöglicht durch Interaktion, also durch Dialog, Gespräch, Empathie, Austausch und Debatte. Wie insbesondere Carl Rogers ausgearbeitet hat, ermöglicht es die Empathie, Fremdes als nachvollziehbar und verstehbar zu erfahren, wobei, wie Emmanuel Lévinas hervorhob, das Erleben des anderen dennoch prinzipiell fremd bleibt. Die andere Person kann sich verständlich machen und verstanden werden, bleibt aber letztlich unbegreiflich fremd. Intersubjektivität ist eine Dialektik zwischen Verstehen und Unverstehbarkeit.

Dass ich im Kontakt zu einem anderen Subjekt dieser anderen Person als Objekt erscheinen kann, macht mir die andere Person überhaupt erst als Subjekt deutlich. Wie Jean-Paul Sartre herausgearbeitet hat, erscheine ich einem Schrank niemals als Objekt. Der Schrank ist und bleibt Objekt für mich, er nimmt mich nicht wahr. Eine andere Person sieht, hört, spürt, fühlt mich, während ich sie wahrnehme, sie kann mich als Objekt betrachten.

Wenn ich die andere Person als Objekt sehe (oder sie mich), dann ist sie (oder ich) der Würde beraubt. Würde bedeutet, die andere Person als Subjekt zu sehen und zu behandeln und von ihr als Subjekt behandelt zu werden. Einen Menschen als Objekt zu betrachten oder ihn als solchen zu behandeln, behandelt ihn würdelos. Den anderen als Subjekt anzuerkennen ist der Kern der humanistischen Haltung zum Menschen, sowohl in der Psychotherapie als auch in der (von Humanisten verfassten) Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Werner Eberwein