Was ist Neuropsychotherapie?

Es war ein spannendes Unterfangen, das sich Klaus Grawe in seinem Buch „Neuropsychotherapie“ vorgenommen hatte: er wollte die damals bekannten (Stand: 2004) Ergebnisse der Hirnforschung für die Psychotherapie nutzbar machen. Im ersten Teil des Buches trägt Grawe mit Akribie die Ergebnisse der Hirnforschung für die Psychotherapie zusammen. So scheint es laut Grawe heute beispielsweise relativ gut gesichert zu sein, dass bei depressiven Patienten bestimmte Hirnregionen (präfrontaler Cortex, Hippocampus) „durch mangelnde Benutzung“ im Volumen geschrumpft sind. Nach einer erfolgreichen Therapie nehmen diese Hirnregionen dagegen an Volumen und an Synapsendichte zu (Grawe 2004, S. 150 ff). Dies wäre der Nachweis dafür, dass sowohl psychische Störungen als auch psychotherapeutische Prozesse mit strukturellen Hirnveränderungen einhergehen. Psychotherapie kann also die Struktur des Gehirns verändern. Das ist interessant und stärkt die Reputation der Psychotherapeuten gegenüber den Medizinern.

Grawes Angst-Konzept dagegen basiert auf einer außerordentlich schmalen Datenbasis. Nach Grawe haben die Hirnphysiologen Gutberlet und Miltner 1999 herausgefunden dass ein bestimmter Aspekt des EEG (die P3-Amplitude) sich bei Patienten mit Spinnenphobie nach erfolgreicher Verhaltenstherapie noch ebenso von Normalpersonen unterschied, wie vor der Therapie. Die Verhaltenstherapie hat die Spinnenphobie also beseitigt, das EEG aber nicht verändert. Nach Grawe interpretieren Gutberlet und Miltner das so, dass ein Hirnareal, das als Amygdala bezeichnet wird, auch bei den therapierten Patienten weiterhin durch Angstreize aktivierbar bleibt (ebenda, S. 104).

Wer sich schon einmal mit EEG-Untersuchungen beschäftigt hat, weiß, dass Hirnstromkurven als Messinstrument nicht gerade besonders zuverlässig sind. Gutberlet und Miltner schließen außerdem von einem durch Verhaltenstherapie unveränderten EEG auf eine aktiviert gebliebene Amygdala, ohne dass dabei die Aktivität der Amygdala direkt gemessen worden wäre. Das ist nun wahrhaft eine schmale – im Grunde eine gar nicht vorhandene – Datenbasis, auf die Grawe nun seine „neurowissenschaftliche Angst-Theorie“ aufbaut. Wenn, so Grawe, die Amygdala „nachgewiesenermaßen“ auch nach der Verhaltenstherapie einer Phobie weiterhin aktiviert bleibe, so könne Angst nicht im verhaltenstherapeutischen Sinn „gelöscht“ werden. Verhaltenstherapeutische Methoden der Angst-Löschung hätten demnach keine neurologische Basis. Die Amygdala als „Angst-Zentrale“ feuere ja weiter, also bleibe die Angstprägung erhalten. Sie könne lediglich „auf kognitivem Wege aktiv gehemmt“ werden.

Meiner Ansicht nach ist das eine Spekulation auf Basis einer Spekulation, die ebenso schwach empirisch fundiert ist, wie die von Grawe so heftig attackierten Konstrukte mancher Analytiker-Kollegen. Dass die Amygdala auch dann feuert, wenn ein Affe gerade einen süßen Fruchtsaft schmeckt (ebenda, S. 289), stört Grawes Konstruktion nicht weiter. Für ihn ist die Amygdala als der neurologische Ort unlöschbarer Angstprägungen identifiziert.

Grawes „neurowissenschaftlich fundierte Therapiekonzept“ für die Behandlung von Angst ist dann auch nichts anderes, als die altbekannte verhaltenstherapeutische Methode der systematischen Desensibilisierung. Der Patient müsse zunächst in einen guten Zustand versetzt werden. Dann müsse er sich real oder in der Phantasie dem Angstauslöser aussetzen, ohne Angst zu empfinden. Auf diese Weise würde die Angst-Reaktion „aktiv gehemmt“ (ebenda, S. 107 ff). Ob „Löschung“ oder „aktive Hemmung“ – Grawes Therapieverfahren der Wahl bleibt also dasselbe und das alte: die klassische Verhaltenstherapie.

Nachdem Grawe im ersten Teil seines Buches ausführlich die Ergebnisse der neurologischen Hirnforschung referiert hat, entwickelt er im zweiten Teil des Buches eine psychologische Theorie, die mit den neurologischen Resultaten kaum mehr etwas zu tun hat. Er nennt sie „Konsistenztheorie“. Es handelt sich um eine etwas modernisierte Form der Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (1957). Nach Grawes Konsistenztheorie habe der Mensch folgende Grundbedürfnisse:

  • ein Bedürfnis nach Kontrolle,
  • ein Bedürfnis nach Lust,
  • ein Bedürfnis nach Bindung und
  • ein Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung.

Aus diesen Grundbedürfnissen entspringen „motivationale Ziele“ und zwar entweder „Annäherungsziele“ (die mit positiven Emotionen einhergehen) oder „Vermeidungsziele“ (die mit negativen Emotionen verbunden sind). Wenn mehrere gleichzeitig aktivierte Grundbedürfnisse eines Menschen miteinander übereinstimmten, und wenn die Person ihre Ziele tatsächlich erreichen kann, dann erlebt der Mensch nach Grawe „Konsistenz“: die Bedürfnisse sind eindeutig und sie werden erfüllt. Wenn die Person dagegen einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Grundbedürfnissen in sich trägt, spricht Grawe von „Diskordanz“. Wenn die Person ihre Ziele nicht erreichen kann, spricht er von „Inkongruenz“. Das „zentrale Prinzip des psychischen Funktionierens“ (S. 186) sei das Streben nach Konsistenz und die Vermeidung von Inkonsistenz. Als „Hauptform von Inkonsistenz“ bezeichnet Grawe die Nichtübereinstimmung zwischen den Zielen eines Menschen und der Realität. Ein Mensch fühlt sich also nach Grawe wohl, wenn seine Bedürfnisse miteinander übereinstimmen und wenn er seine Bedürfnisse befriedigen kann.

An dieser Stelle habe ich mich beim Lesen gefragt, ob es wirklich erforderlich ist, aus einer ganzen Bibliothek von neurologischen und empirischen Untersuchungen über hunderte von Seiten hinweg etwas abzuleiten, was jedes Kind weiß. Wer würde schon das Gegenteil vermuten, dass ein Mensch sich wohl fühlt, wenn er sich innerlich zwischen verschiedenen Bedürfnissen zerrissen fühlt, oder wenn er wichtige Lebensziele nicht erreichen kann? Was Grawe mit einem ungeheuren Aufwand als „Inkonsistenz“ ableitet, ist nichts anderes als das, was man landläufig als „Frustration“ bezeichnet: wenn etwas nicht so läuft, wie man das möchte.

Wie ist nach Grawe „konsistenztheoretisch“ die Entwicklung psychischer Störungen zu verstehen? „Inkonsistenz“ (also ein innerer Konflikt zwischen verschiedenen Bedüfnissen oder zwischen Bedürfnis und Realität) führe zu einem neurologischen Spannungszustand. Die Überwindung des „Inkonsistenzkonfliktes“ führe zu Spannungsreduktion. Diese sei von einer erhöhten Dopaminausschüttung im Gehirn begleitet. Die wiederum führe zu einem Neuwachstum von synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen im Gehirn – also zu dem, was Grawe neurologisch unter Lernen versteht. Symptome entstünden demnach durch Konditionierung: der zukünftige Patient versuche, Inkonsistenzspannung kurzfristig zu reduzieren und erzeuge dabei ein Symptom (z.B. eine ängstliche Vermeidung). Weil das Symptom die Spannung reduziert, werde der Prozess „verstärkt“ und fahre sich fest, was zur Chronifizierung führe (ebenda, S. 311 ff). Auch für diese Theorie der Symptomentstehung hätte Grawe die Neurologie nicht bemühen müssen, denn sie ist in jedem Lehrbuch der klassischen Verhaltenstherapie nachzulesen.

So banal, wie die (unter einer kompliziert klingenden Terminologie verborgenen) Theorien Grawes, sind auch die „empirisch sehr gut belegten“ (S. 433) Empfehlungen, die Grawe uns Psychotherapeuten geben will. Sie reduzieren sich im Wesentlichen auf drei Punkte:

1.) Der Therapeut solle mit dem Patienten an der Bewältigung seiner Probleme arbeiten.
2.) Der Therapeut solle für eine gute Beziehung zu dem Patienten sorgen.
3.) Der Therapeut solle auf die Ressourcen des Patienten fokussieren.

Dadurch entstehe beim Patienten ein „Zustand der Motiviertheit“, der angenehm und anregend sei, und mit einer höheren Dopaminkonzentration im Gehirn einhergehe. Das führe zu Gefühlen von Lust, und einer größeren „Verstärkungsbereitschaft“ für neu gelerntes Verhalten.

Die erste Richtlinie empfinde ich als tautologisch. Es handelt sich um eine Definition von Psychotherapie schlechthin. Der zweiten Richtlinie würden sicherlich die Anhänger der meisten psychotherapeutischen Schulen zustimmen (auch wenn sie in der Praxis wohl nicht immer optimal umgesetzt wird). Und was die Ressourcen-Orientierung betrifft, so steht diese Einstellung in den modernen Kurzzeittherapien (Hypnotherapie, NLP usw.) von jeher an allererster Stelle. Wir lernen also von Grawe etwas, was zumindest Kurzzeittherapeuten längst wussten, dass es dem Therapieprozess förderlich ist, auf eine gute Beziehung zum Patienten zu achten und auf die Ressourcen des Patienten zu fokussieren.

Grawes vielfach wiederholter, harscher Kritik an den psychodynamisch orientierten Verfahren vermag ich nicht zu folgen. Für Grawe sind psychodynamisch Verfahren durch eine (laut Grawe therapeutisch schädliche) „Problemzentriertheit“ statt durch (therapeutisch förderliche) „Ressourcenzentriertheit“ ausgezeichnet. Wenn man die immense Differenziertheit der Theorie und Methodik etwa der modernen psychoanalytischen Richtungen nach Kohut, nach Kernberg oder in den relationalen/interpersonellen Strömungen betrachtet, so erscheint die Reduktion dieser Verfahren auf das Schlagwort „Problemzentriertheit“ doch sehr kurz gegriffen. Eine psychodynamische Therapie sei aber – so Grawe – auch darum vollkommen sinnlos, weil frühkindliche Erlebnisse „prinzipiell nicht erinnerbar“ (ebenda, S. 356), und damit „der Introspektion unzugänglich“ (S. 358) seien. Obwohl Grawe letzteres in seinem Buch immer wieder betont, fehlt gerade hierfür jeder empirische Beleg. Dass in analytisch begründeten Therapien frühkindliche Beziehungsmuster nicht unbedingt direkt erinnert werden müssen, sondern dass sie aus den aktuellen Interaktions- und Übertragungsmustern des Patienten erschlossen werden können, ist für Grawe auch nicht weiter von Belang.

Schauen wir uns noch an, wie Grawe die Ressourceorientiertheit des psychotherapeutischen Prozesses in der Praxis erreichen will. Grawe empfiehlt dem Therapeuten, aktiv dafür zu sorgen, dass der Patient in der Therapie Erfahrungen macht, die für den Patienten eine „Befriedigung seiner Grundbedürfnisse“ darstellen (ebenda, S. 433 ff). Dies führe zu „Konsistenzverbesserung“ und dadurch – auch unabhängig von der Bearbeitung konkreter Symptome – zu einer Verbesserung des Wohlbefindens des Patienten.

Wie kann der Therapeut die Grundbedürfnisse des Patienten befriedigen? Das „Kontrollbedürfnis“ des Patienten könne befriedigt werden durch eine Verbesserung seiner Kontrolle über seine Symptome (z.B. Angst- oder Zwangssymptome). Das Bedürfnis des Patienten nach „Selbstwerterhöhung“ könne befriedigt werden, indem der Therapeut den Patienten für seine Fähigkeiten und Leistungen verbal anerkenne. Das Bedürfnis nach „Bindung“ könne befriedigt werden, indem sich der Therapeut als kompetent und engagiert darstelle. Wie kann sich der Therapeut als kompetent und engagiert darstellen? Zitat Grawe:

„Therapeuten sollten mit dem Oberkörper zum Patienten hin geneigt sitzen, die Arme offen, die Hände locker im Schoß, jedenfalls nicht verschränkt. Sie sollten, während der Patient spricht, immer wieder mit dem Kopf nicken. Was sie selbst sagen, sollten sie mit lebhafter Gestik unterstreichen. Die Beine sollten eher offen als übereinander geschlagen sein.“ (ebenda, S. 435)

Das Bedürfnis des Patienten nach „Lust“ könne befriedigt werden, indem der Therapeut dem Patienten in den Sitzungen „positive Emotionen“ verschaffe, beispielsweise durch „Humor“ („gemeinsames Lachen“) oder durch „Hypnose“.

Wenn man bedenkt, wie differenziert etwa hypnotherapeutische oder NLP-Methoden zur Ressource-Aktivierung und zur Verbesserung des Rapports mit dem Patienten sind, mag man über Grawes akademische Ratschläge lächeln. Aber wenn ich mich nicht irre, werden auf einer solchen „empirischen“ Basis demnächst verbindliche störungsspezifische Therapieleitlinien erarbeitet werden, die – inklusive obligatorischem Skill-Training und anschließenden Qualitätssicherungsmaßnahmen – uns Therapeuten verpflichtend vorgegeben werden.

Für Grawe ist das menschliche Gehirn bloß ein Computer. Subjektive Erlebnisse sind für ihn „Schaltkreise“, Gedanken und Gefühle werden demnach „geschaltet“, das Bewusstsein ist für Grawe „der Arbeitsspeicher“. Das große Rätsel der Psychologie (vielleicht das zentrale Mysterium unserer Existenz), das menschliche Bewusstsein, verschwindet in Grawes Computer-Analogien vollkommen. Worum es in der Psychotherapie zentral geht, die Transformation erlebter Subjektivität ist für Grawe gar kein Gegenstand. Subjektivität, Individualität und Bewusstsein werden ausgeklammert.

Es ist daher kein Wunder, dass Grawe sich schon auf die künftige Entwicklung einer neurologischen Psychotherapie freut. Zitat Grawe:

„Technisch wäre es auch möglich, ein bestimmtes Hirnareal durch implantierte Elektroden (Schrittmacher) oder durch Magnetstimulation zu aktivieren oder leichter durch bestimmte Reize aktivierbar zu machen. … Wir haben heute keine Scheu davor, Neuronenverbände durch chemische Einflüsse auf die Neurotransmitter leichter aktivierbar zu machen oder zu hemmen. … Man könnte in bestimmte, genau ausgewählte Hirnregionen kleine Magnete implantieren, deren magnetische Kraft ausreicht, im Blut zirkulierende Moleküle, die mit bestimmten Markern versehen wurden, zum verstärkten Andocken in genau dieser Hirnregion zu bringen. … Es könnte etwa genau an der Stelle ein verstärkte Dopaminkonzentration herbeigeführt werden, wo ein neues neuronales Erregungsmuster gebahnt werden soll.“ (ebenda, S. 446 f)

Für mich ist ein solches Herumspielen am Gehirn eine gruselige Vorstellung. Für Grawe ist es die wünschenswerte Integration von Neurologie und Psychotherapie.

Fazit: Grawes Überblick über die neurologische und empirische Literatur ist beeindruckend. Aber was dabei am Ende für die Psychotherapie herauskommt, ist nicht nur nichts neues, es bleibt weit hinter dem zurück, was in modernen psychotherapeutischen Ansätzen schon lange zum täglichen Brot gehört und ist zum Teil gruselig.

Werner Eberwein

 

Literatur

Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.