Was ist Narzissmus?

Narzissmus ist eine Störung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen, die sich vor allem als Störung des Selbstwertgefühls äußert. Narzisstische Menschen leiden unter einer psychischen Spaltung zwischen

  • einem „Größenselbst“ – einem übersteigerten perfekten, grandiosen, makellosen Bild und
  • einem „entwerteten Selbst“ – einer wertlosen, minderwertigen, verachteten, verachtungswürdigen, mickrigen Vorstellung

von sich selbst, von anderen, von Beziehungen und von der Welt.

Narzissten leben in einer gespaltenen Welt. Sie sind immer zugleich einerseits „die Prinzessin“, „der Superstar“, aber zugleich auch „die Kröte“, „der Loser“. Was sie als gut, erstrebenswert, befriedigend oder liebenswert empfinden, ist das Makellose, Perfekte, Nur-Gute. Nur wenn sie vollkommen großartig sind, glauben sie, liebenswert zu sein und dafür geliebt zu werden. Nicht als Mensch, als Person glauben sie liebenswert zu sein, sondern aufgrund ihrer Leistungen, ihrer Perfektion und Großartigkeit. Nur wenn ein anderer Mensch ihnen als ideal und vollkommen erscheint, glauben Sie, diesen Menschen lieben zu können. Da dies natürlich niemals vollständig und dauerhaft der Fall ist, sind Narzissten in ihrem Selbstwertempfinden und in ihren Bindungen ständig von Zusammenbrüchen bedroht und neigen zu radikalen Rückzügen.

Bereits ein kleiner Misserfolg, ein Naserümpfen, ein geringfügiges Nachlassen des Beifalls, ein kleiner Fehlschlag kann ihr Selbstwertgefühl zum Implodieren bringen, und dann bleibt nur „ein Nichts“ übrig. Wenn sie an anderen kleine Fehler oder Schwächen wahrnehmen, sind diese für sie „gestorben“, wertlos, sie lassen sie fallen und ziehen sich ruckartig von ihnen zurück. Sie können in einem Moment von einer totalen Idealisierung ihrer selbst oder eines anderen Menschen zur vollkommenen Entwertung kippen. In ihrer Welt gibt es nur Schwarz und Weiß, Himmel und Hölle, Nur-Gut und Nur-Schlecht, alles ist mit „oben“ und „unten“, also mit Bewertungen verbunden, und auf ihrer Bewertungsskala gibt es im Grunde nur zwei Stufen: ganz oben und ganz unten.

Sofern Narzissten erfolgreich sind, ihre Vorstellung von einem großartigen Selbst und einem großartigen Leben aufrecht erhalten werden kann, wenn sie sich bewundert und beneidet fühlen und beständig Lob und Applaus für ihre Großartigkeit erhalten, sind sie stabil, beuten aber ihre Umwelt aus. Wie Vampire saugen sie den Menschen, die ihnen nahestehen, das Selbstwertgefühl ab. Um sich selbst großartig fühlen zu können, brauchen sie Adepten, Anhänger, Bewunderer, Fans, die zu ihnen aufschauen und sie idealisieren. Jeder narzisstische Riese ist umgeben von minderwertigen Zwergen, die ihn anbeten, um ein wenig „in seinem Licht leuchten“ zu können.

Die Sucht des Narzissten nach Erfolg und Bewunderung kompensiert eine innere Leere, ein abgrundtiefes Hohlheits- und Wertlosigkeitsgefühl, das durch noch so viel äußerliche Bestätigung nicht gefüllt werden kann. Narzissten leiden unter einer „Wunde des Ungeliebten“ (Schellenbaum). Auch wenn sie für Ihre Schönheit, ihren Reichtum, ihre Macht oder ihren Status bewundert oder beneidet werden, bleibt ein nagendes Gefühl des Zweifels, weil all diese Insignien der Großartigkeit Ihnen ja in ihrem Wesen nicht angehören. Ein noch so schöner Mensch wird alt und kann jederzeit durch Krankheit oder Unfall seine Attraktivität verlieren. Macht, Status und Reichtum können verschwinden oder einem genommen werden. Daher ist der Narzisst ständig besorgt und mit der Verteidigung und Absicherung seiner Position beschäftigt. Er ist getrieben von Angst vor dem schwarzen Loch der Entwertung und Selbstentwertung, das er im Kern seines Wesens nicht los wird.

Der Schatten der Selbstverliebtheit des Narzissten ist also die Selbstentwertung. Er muss sie zwanghaft kompensieren durch narzisstische Pseudo-Sinn-Drogen wie Geld, Macht, Prestige, Bekanntheit, Gefragtheit, Intelligenz, Wissen, Attraktivität, Schlankheit, Affären usw. Sein Streben nach Erfolg ist zwanghaft, er muss oben sein, um nicht unten zu sein, sein Selbst ist aufgebläht aus Angst vor innerer Leere.

Werner Eberwein