Was ist Mentalisierung?

Mentalisierung oder Mentalisieren ist ein in den letzten Jahren besonders unter Psychiatern und Psychoanalytikern häufig verwendeter abstrakter Begriff für eine Reihe psychischer Tätigkeiten bzw. Fähigkeiten. Er entspricht weitgehend dem, was der 2015 verstorbene Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall Rosenberg, als „Empathie und Selbstempathie“ bezeichnete, sofern man den Begriff „Empathie“ weit fasst und darunter nicht nur das Einfühlen in Emotionen, sondern auch das Reflektieren bzw. das Sich-Hineinversetzen beispielsweise in Einstellungen, Überzeugungssysteme und subjektive Bedeutungen versteht.

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Mentalisieren bedeutet, sich der eigenen psychischen (also geistigen, „mentalen“) Prozesse und der anderer Menschen in Interaktion miteinander und in ihren Wechselwirkungen mit dem Verhalten gewahr zu sein. Das bedeutet, die eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Einstellungen, Bewertungen usw. angemessen und zutreffend reflektieren zu können und gleichzeitig die psychischen Prozesse anderer Personen, sowie beide in ihrer Wechselwirkung miteinander und in ihrem Zusammenhang zum Verhalten beider in der sozialen Interaktion angemessen zu repräsentieren. Mentalisieren bedeutet, auf achtsame Weise die eigene, innere, psychische Verfassung wahrzunehmen, sowie sich die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu vergegenwärtigen sowie die Fähigkeit, über beide reflektierend nachzudenken.

Mentalisieren ist die Fähigkeit, psychische Zustände in sich selbst und den anderen Menschen als solche bewusst wahrnehmen zu können, sie also als etwas Subjektives zu erfassen, was nicht unmittelbar identisch mit der äußeren Realität ist. Dieses Gewahrsein ist eine zentrale Voraussetzung für angemessene emotionale, Beziehungs- und Energieregulation sowie für die Stabilität interpersonalen Beziehungen. Mentalisieren heißt, sich eigenes und fremdes Verhalten zu erklären, indem man es mit inneren Zuständen wie Gefühlen, Bedürfnisse und Überzeugungen in Beziehung setzt.

Die Fähigkeit zum Mentalisieren ist etwas, was soweit wir wissen einzig dem Menschen zukommt und bei Tieren nicht oder nur sehr rudimentär vorhanden ist.

Der kognitive Aspekt des Mentalisieren besteht aus der Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände interpretieren, also quasi am Verhalten der anderen ablesen zu können was vermutlich in ihren Köpfen vorgeht und das eigene Erleben reflektierend-nachdenkend erfassen zu können. Das bedeutet, eine Vorstellung davon zu besitzen, welche mentalen (also geistigen, psychischen) Gründe für das Verhalten eines Menschen vorliegen könnten. Sich selbst zu Mentalisieren bedeutet unter anderem, reflektierend zu erfassen, welche biografischen Erfahrungen zu den jetzigen Gefühlen, Bedürfnissen und Überzeugungen geführt haben, und wie diese wiederum mit dem aktuellen Verhalten zusammenhängen.

Somit sind die Mentalisierungsfähigkeiten eine Grundvoraussetzung dafür, andere Menschen verstehen, ihr Verhalten deuten und sich auf die jeweilige soziale Umgebung einstellen zu können. Mentalisieren dient zur Orientierung in jeder sozialen Interaktionen und Beziehung sowie zur Regulation der eigenen Emotionen und Bedürfnisse.

In der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung wurde ein starker wechselseitiger Zusammenhang zwischen Mentalisierungsfähigkeit und Bindungssicherheit festgestellt. Sicher gebundene Kinder (im Sinne von John Bowlby) entwickeln stärkere Mentalisierungfähigkeiten. Kinder von Eltern, deren Fähigkeit zu Mentalisieren gut ausgeprägt ist, entwickeln einen sicheren Bindungsstil.

Ein weitgehendes Fehlen von Mentalisierungsfähigkeiten liegt bei autistischen Menschen vor, die, je nach Schwere ihrer Störung, geistige und insbesondere emotionale Prozesse in sich selbst und in anderen Menschen nicht angemessen oder überhaupt nicht erfassen können. Auch Borderline-Patienten können nur begrenzt (und unter Stress überhaupt nicht mehr) Mentalisieren. Sie nehmen ihre eigenen psychischen Zustände (vor allem ihre Gefühle) nicht als etwas Subjektives wahr, sondern als zweifelsfrei notwendige Reaktion auf die äußere Situation. Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, dass in derselben Situation auch andere Interpretationen oder Gefühlsreaktionen möglich und eventuell auch angemessener sein könnten. Wenn Mentalisierung scheitert, nimmt ein Mensch die Personen seiner sozialen Umgebung nicht mehr als fühlende Subjekte, also als Personen wahr, sondern als Dinge, also als Gegenstände und geht entsprechend mit ihnen um.

Die Mentalisierungstheorie geht zurück auf die englischen Psychoanalytiker Peter Fonagy und Mary Target, die sie zum besseren Verständnis und zur Behandlung besonders von Menschen mit strukturellen Störungen aus der Bindungsforschung in der Nachfolge von John Bowlby heraus entwickelten. Die Mentalisierungtheoretiker (Fonagy, Gergely, Jurist, Allen u.a.) haben auf dieser Basis ein Konzept mentalitätsbasierter Psychotherapie insbesondere für die Arbeit mit Borderline-Patienten sowie mit traumatisierten, paranoiden oder schizophrenen Patienten und für die Kindertherapie entwickelt. Sie zielt im Wesentlichen darauf ab, die Fähigkeit der Patienten zu angemessener und zutreffender Mentalisierung zu fördern bzw. überhaupt erst zu entwickeln.

Menschen mit strukturellen Störungen tendieren dazu, aufgrund unreflektierter Überzeugungen ihre Emotionen unmittelbar auszuagieren und damit ihr eigenes emotionales Schicksal zu re-inszenieren. Die Alternative dazu ist das Mentalisieren im Sinne einer psychischen Reflexion der aktuellen mentalen Interaktion und das mentalisierende Verstehen der eigenen Lebensgeschichte.

Kernelement einer mentalisierungsgestützten Behandlung ist es, den Patienten allmählich zu befähigen, sein eigenes Erleben als etwas Subjektives zu erfahren und die psychische Wirklichkeit anderer Menschen als eigenständig zu erkennen und anzuerkennen. Der Patient wird ermutigt (und gelegentlich konfrontativ aufgefordert), zu erkunden, wie er in Bezug auf sich selbst und auf andere fühlt und denkt, wie dies sein Handeln bestimmt und welche (zum Teil unreflektierten) aber von ihm zunächst als absolut sicher angenommenen Interpretationen er seinem sozialen Handeln zugrunde legt. Auf diese Weise kann der Patient u.a. lernen, dass das Verhalten anderer Menschen auch anders interpretiert werden bzw. etwas anderes bedeuten kann, als das, wovon der Patient bisher mit Sicherheit ausging.

Besonders unter dem Einfluss starker Emotionen oder verwirrende Gefühle können Menschen schnell ihre Mentalisierungsfähigkeiten verlieren. Borderline-Patienten reagieren in solchen Situationen oft mit massiver Wut oder mit Selbstverletzungen. Hier kann der Therapeut sie auffordern, innezuhalten, sich auf den Augenblick der Unterbrechung (und des Ausbruchs des oft massiven Konflikts) zu fokussieren, ihre eigenen mentalen (emotionalen und kognitiven) Prozesse in diesem Moment reflektierend zu untersuchen sowie alternative Hypothesen über die mentalen Prozesse der anderen Person/en zu entwickeln.

Mentalisiert werden vor allem Gefühle, aber auch Wünsche, Bedürfnisse, Gedanken, Überzeugungen, Beweggründe, Vorstellungen und Fantasien. Die Tätigkeit des Mentalisierens umfasst u.a. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erkennen, Beschreiben, Interpretieren, Schlussfolgern, Vorstellen, Erinnern, Reflektieren und Antizipieren. Aus alldem ist unsere Fähigkeit, uns selbst und anderen Menschen zu verstehen und uns in sozialen Interaktionen angemessen zu verhalten, zusammengesetzt.

Das Fördern der Mentalisierungsfähigkeiten ist ein Kernaspekt jeder reflektierenden Psychotherapie. Der Psychotherapeut richtet seine intensive Aufmerksamkeit, und somit auch die Aufmerksamkeit des Patienten auf dessen „Innenleben“ in Interaktion mit dem Innenleben der Menschen, die ihm nahe stehen, so auch mit dem Innenleben des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung und Übertragung.

Die Fähigkeit zu Mentalisieren entsteht bereits im Säuglingsalter durch Prozesse der emotionalen Spiegelung zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen. Säuglinge erhalten von ihren Elternpersonen ein beständiges, unmittelbares emotionales Feedback, zum Beispiel durch Mimik, Geste, Augenausdruck, Stimmlage, Berührungen usw. für ihre eigenen mentalen Zustände. Dieses Feedback kann je nach Mentalisierungs-(d.h. Empathie- und gleichzeitiger Distanzierungs-)Fähigkeit der Eltern mehr oder weniger zutreffend und angemessen sein.

Die Mentalisierungsfähigkeiten entstehen durch frühe, präverbale Prozesse der Affektspiegelung im Säuglingsalter. Säuglinge können ihre Emotionen zunächst nur undifferenziert wahrnehmen. Sie werden sich ihrer eigenen Gefühle und ihrer emotionalen Zustände erst durch die spiegelnden Reaktionen der primären Bezugspersonen auf ihren emotionalen Ausdruck bewusst. Die „Affektspiegelung“ durch die primären Bezugspersonen geschieht in der Regel auf eine übertriebene, emotional überbetonte Weise („Babysprache“) und auf eine Weise, die den emotionalen Zustand des Säuglings nicht „eins zu eins“ wiedergibt, also nicht exakt spiegelt, sondern auf eine modulierende („markierte“) Weise. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Säugling verzweifelt weint und seine Mutter auf eine beruhigende und tröstende Weise zu ihm spricht. So macht der Säugling die Erfahrung, dass die Bezugspersonen zwar abgestimmt auf seine Gefühlsäußerungen reagieren, diese aber nicht identisch wiederspiegeln. Dieser Prozess ist die Basis für das Erfassen der Gefühlszustände anderer, auf den eigenen Zustand eingestimmte Personen. Dies wiederum ermöglicht es dem Säugling, allmählich eine geistige Repräsentation („Metakognition“) seines emotionalen und psychischen Zustandes (ein „Selbstbild“) zu entwickeln.

Eine Bezugsperson, die sich zum Beispiel aufgrund von aktuellen Stress oder starker psychischer Belastung von den Äußerungen und Bedürfnissen des Säuglings überfordert oder überflutet fühlt, kann nicht angemessen darauf reagieren. Stattdessen reagiert sie mit ihren eigenen Gefühlen, etwa von Gestresstheit, Genervtheit, Wut, Hilflosigkeit oder Verzweiflung. Dem Säugling wird dann nicht sein eigenes Befinden, sondern das (emotional dysregulierte und unabgestimmte) Befinden der Bezugspersonen gespiegelt. Der Säugling entwickelt in Reaktion darauf verzerrte Repräsentationen seines eigenen Zustandes, aus denen im Laufe der Zeit ein „falsches Selbst“ (Winnicott) entstehen kann.

Unter explizitem Mentalisieren versteht man das bewusste Repräsentieren eigener und/oder fremder psychischer Zustände im Nachdenken oder Sprechen über diese – Psychotherapie kann somit verstanden werden als eine Form des expliziten Mentalisierens. Dies bezieht sich nicht nur auf den aktuellen mentalen Zustand des Patienten und der Menschen seiner aktuellen Umgebung, sondern auch auf Versuche, nachträglich Ereignisse und Prozesse (beispielsweise aus der Kindheit des Patienten) auf mentalisierende, also die psychische Interaktion reflektierende Weise zu erfassen oder sich auf künftige soziale Situationen mentalisierend einzustellen.

Das implizite Mentalisieren geschieht nicht bewusst, sondern beiläufig. Es besteht aus unserem untergründigen Gefühl für uns selbst und einem beiläufigen Erfassen der mentalen Zustände des Gegenüber im sozialen Kontakt, auch wenn dies nicht explizit bewusst oder im Gespräch zum Thema wird.

Patienten mit Entgrenzungsproblematiken handeln dagegen oft „unreflektiert“, also ohne ihre eigenen Gefühlszustände und Überzeugungen als solche, und das heißt als etwas Subjektives wahrzunehmen. Ebenso neigen diese Patienten dazu, anderen Menschen ungeprüfte Interpretationen von deren Motivationen zu unterstellen und auf diese unverrückbar zu beharren, auch wenn es sich dabei um fragwürdige Hypothesen handelt (z.B. „Der will mich doch nur ausnutzen!“).

Gestörtes oder scheiterndes Mentalisieren kann die Form konkretistischer oder projektiver psychischer Verarbeitung annehmen, in der zwischen Interpretation und Wirklichkeit, Fantasie und Realität, Gefühl und Welt nicht mehr unterschieden wird („psychischer Äquivalenzmodus“).

Ein Misslingen der interaktiven Mentalisierung tritt auch bei nicht strukturell gestörten Personen in Situationen von massivem Stress oder akuter Verwirrung auf. Auch hier kann die Förderung der Mentalisierungsfähigkeiten dazu dienen, Neigungen zu panischen Stressreaktionen (z.B. übertreibene Eifersucht) zu entschärfen und auch in verwirrenden Konstellationen den Boden unter den Füßen zu behalten.

Mentalisieren geht mit einem angemessenen Maß an psychologischer Sensibilität einher, also einer intuitiven Feinfühligkeit für das, was im eigenen Inneren und in dem des Gegenüber vor sich geht, um sich selbst, den anderen und die Beziehung miteinander besser zu verstehen. Die Fähigkeit zur Mentalisierung ist eine grundlegende Voraussetzung psychischer Gesundheit und stabiler, befriedigender sozialer Beziehungen.

Möglichst präzises und zugleich für Veränderbarkeit offenes Mentalisieren setzt eine mitfühlende, akzeptierende, wohlwollende und wertschätzender Haltung sich selbst und dem anderen gegenüber voraus und fördert die Fähigkeit zu Gebundenheit, Verbundenheit und Intimität in Beziehungen.

Literatur

  • Allen, J. & Fonagy, P. (Hrsg.): Mentalisierungsgestützte Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta 2006
  • Allen, J., Fonagy. P. (Hrsg.): Mentalisierungsgestützte Therapie. Das MBT-Handbuch – Konzepte und Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta 2009
  • Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target. : Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart: Klett-Cotta 2004
  • Schultz-Venrath, U.: Lehrbuch Mentalisieren: Psychotherapien wirksam gestalten. Stuttgart: Klett-Cotta 2013

Werner Eberwein