Was ist Intersubjektivität?

In seinem interessanten und kompakten Band „Der Andere in der Psychoanalyse. Die intersubjektive Wende“ (Kohlhammer Verlag Stuttgart, 2014,144 Seiten) beschreibt der Psychoanalytiker und emeritierte Professor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Michael Ermann die Quellen, Entwicklungen und Grundkonzepte der intersubjektiven Psychoanalyse.

Bei der intersubjektiven Orientierung handelt es sich, so Ermann, um einen Paradigmenwechsel in der Psychoanalyse, der darauf abzielt, die enge Perspektive der Ein-Personen-Psychologie von Sigmund Freud und seinen Nachfolgern zu überwinden und ein Konzept der menschlichen Entwicklung und des psychotherapeutischen Prozesses zu entwickeln, das der intersubjektiven Verfassung unseres Lebens Rechnung trägt.

Leider werden die humanistischen Quellen des intersubjektiven Ansatzes nicht oder nur am Rande erwähnt. Beispielsweise spricht Ermann kein einziges Mal von Carl Rogers, Jakob Moreno oder Fritz und Laura Perls, und selbst Martin Buber wird nur einmal beiläufig erwähnt. Dennoch sehe ich in der intersubjektiven Richtung der Psychoanalyse eine erfreuliche Konvergenzbewegung hin zur humanistischen Psychotherapie.

Als Begründer der intersubjektiven Richtung der Psychoanalyse gelten insbesondere:

  • Hans Loewald, der als erster Psychoanalytiker die Idee vertrat, dass sich das sich das Selbst des Säuglings aus der primären Bezogenheit mit der Mutter heraus entwickelt,
  • Steven Mitchell, der die sogenannte relationale Psychoanalyse entwickelt hat,
  • Robert Stolorow, der das Konzept des „intersubjektiven Feldes“ begründete.

Als Hauptvertreter der intersubjektiven Psychoanalyse gelten unter anderem Jessica Benjamin, Merton Gill, Beatrice Beebe, Frank Lachmann, Stephen Mitchell, Thomas Odgen, Daniel Stern, Robert Stolorow, Donna Orange, George Atwood und Bernhard Brandchaft.

Über Freud hinaus

Die klassische freudsche Psychoanalyse folgt in ihrer Grundstruktur einem naturwissenschaftlichen Paradigma. Die Therapie müsse, so Freud, durchgeführt werden in

  • Neutralität, einer Haltung, bei der es darum geht, weder direktiv zu intervenieren noch für eine der Seiten der Konflikte des Patienten oder für die Anforderungen der Realität einzutreten oder Bewertungen vorzunehmen sowie zu Es, Ich und Über-Ich des Patienten gleichmäßigen Abstand zu halten und
  • Abstinenz, verstanden als Nichtbefriedigung der durch die Übertragung beim Analysanden hervorgerufenen Gefühle und Wünsche in Bezug auf den Therapeuten, sowie als Enthaltung der Gegenübertragungswünsche des Therapeuten.

Dies führt, so Ermann, oft zu dem illusorischen Versuch freudscher Analytiker, dem Patienten gegenüber vollkommen anonym zu bleiben und damit zu einem kühlen, distanzierten Beziehungsklima in der Therapie, was für viele Patienten aber nicht als neutral, sondern vielmehr als retraumatisierend erlebt wird.

In der freudschen Psychoanalyse wird die Übertragungsneurose des Patienten durch Abstinenz (verstanden als Frustration der Kontakt-und Bindungswünsche des Patienten) eingeladen und gefördert, was unweigerlich zu Enttäuschungsreaktionen und schließlich zu Aggressionen auf Seiten der Patienten führt, die dann als Übertragung und Widerstand gedeutet werden. Die Gegenübertragung des Therapeuten wird als passive Reaktion auf die Übertragungen des Patienten verstanden. Die reale Patient-Therapeut-Beziehung kommt in der Freud‘schen Psychoanalyse nicht vor. Freud ging außerdem davon aus, dass in den frühen Phasen der Entwicklung des Säuglings die „Libido“ im Selbst lokalisiert sei („primären Narzissmus“, „ursprüngliche autoerotische Phase“) – das sieht die intersubjektive Psychoanalyse ganz anders – siehe unten.

Quellen der intersubjektiven Psychoanalyse

Als Quellen und Vorläufer der intersubjektiven Psychoanalyse nennt Ermann folgende:

Als Philosophische Quellen erwähnt Ermann (nur kurz, ohne ihre Theorien und deren Bedeutung auszuführen) Edmund Husserl, Hans-Georg Gadamer, Martin Buber, Ludwig Binswanger und Martin Heidegger.

Sandor Ferenczi hat als erster Analytiker die Bedeutung des realen Anderen und einer realen, förderlichen Beziehungen in der Therapie hervorgehoben.

Die Gegenübertragung in der Psychoanalyse sei vom späten Freud und seinen Nachfolgern neu bewertet und nicht mehr nur als Störung der freien Assoziation, sondern als wichtigste Informationsquelle über die alten Beziehungsmuster des Patienten betrachet worden.

Die Objektbeziehungstheorie (ab ca. 1940) hebt die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung hervor (wobei unter „Objektbeziehungen“ genau genommen psychische Beziehungs-Erfahrungs-Repräsentanzen zu verstehen sind). Als Hauptvertreter der Objektbeziehungstheorie gelten unter anderem Melanie Klein, Wilfried Bion, Paula Heimann, Michael Balint, William Fairbairn, Donald Winnicott und Otto Kernberg.

In der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut (ab etwa 1971) wird eine unabhängige Entwicklungslinie und eine eigenständige Dynamik des Selbst und des „Narzissmus“ sowie die Existenz „narzisstischer Übertragungen“ (die von Freud bestritten wurden) postuliert:

  • Die Selbstobjektfunktion (kurz als „Spiegelung“ bezeichnet) der Primärbeziehungspersonen und auch der aktueller Beziehungen (auch des Analytikers) durch Empathie und Akzeptanz dient der Entstehung und Stabilisierung eines kohäsiven (zusammenhängenden) Selbstgefühls.
  • Ein Versagen der Selbstobjektfunktion im frühen, aber auch im aktuellen Leben führt zu einer Destabilisierung des Selbstgefühls.
  • Eine „optimale Frustration„, in der die Spiegelungsfunktion weder zu perfekt ist noch vollkommen fehlschlägt, trägt am besten zur Herausbildung stabiler Selbststrukturen bei.
  • Der entscheidende Prozess in der Psychotherapie sei die „umwandelnde Verinnerlichung“ der Selbstobjekt(= Spiegelungs- und Akzeptanz-)Funktion des Therapeuten.
  • Ein anhaltendes traumatisches Versagen der Selbstobjektfunktion wichtiger Bezugspersonen führt zu einer Spaltung der „Selbst- und der Objekt-Imagines (= Vorstellungen). Das Selbst und die „Objekte“ werden dann auf mitunter schnell oszilllierende Weise in idealisierte und entwertete Anteile dissoziiert („bipolares Selbst“).
  • Für die Therapie bedeutet das, dass der Therapeut zunächst seine „Verwendung“ als „idealisiertes Objekt“ zulassen muss, um dann die unvermeidlichen Krisen durch Empathieversagen seinerseits mit dem Patienten durchzuarbeiten.
  • Als narzisstische (archaische) Selbstobjektübertragungen beschreibt Kohut insbesondere die Spiegelübertragung (Wunsch nach „Gesehenwerden“), das idealisierte Größenselbst, das entwertete Selbst und die Zwillingsübertragung (Therapeut als identisches Abbild des Patienten).

Die empirische Säuglingsforschung

  • geht auf die früheren Untersuchungen von René Spitz und Margarete Mahler zurück, deren Konzepte zwar heute weitgehend überholt sind, die aber bereits 1965 die früheren Beziehungen zwischen der „Mutter“ (der Primärbezugspersonen) und dem Säugling untersucht haben.
  • Daniel Stern beschrieb 1979 fünf aufeinander folgende Stufen der Entwicklung des Selbst:
    – das auftauchende Selbst,
    – das Kern-Selbst,
    – das subjektive Selbst,
    – das verbale Selbst und
    – das narrative Selbst.
    Er hob hervor, dass ein Säugling schon früh in der Lage ist, intersubjektive Beziehungen zu erleben und aktiv aufzunehmen.
  • Martin Dornes beschrieb 1993 in seinem Buch „Der kompetente Säugling“ die bereits früh sich entwickelnden Fähigkeiten von Kleinstkindern zu sozialer Wahrnehmung sowie zum Erleben und zum Ausdruck differenziertere Emotionalität als aktive Mitgestalter der Beziehung zu ihren Primärbezugspersonen.
  • Weiter wurden von Säuglingsforschern angeborene, intuitive Interaktionprogramme bei Eltern und Kind beschrieben, sowie die Notwendigkeit des Zusammenpassens („matching“, „fitting“) beider für die Entwicklung eines integrierten Selbstgefühls.
  • Die Bildung psychischer Strukturen geschehe durch Verinnerlichung der Interaktionen mit den Eltern im entspannten interpersonalen Zusammenspiel.
  • Wenn im Säugling durch mangelnde Wahrnehmung, Dekodierung, Anerkennung oder Beantwortung seiner Gefühle und Bedürfnisse unregulierbar hohe Spannungszustände entstehen, kommt es zu Störungen der Affekt- und Beziehungsregulation, sowie im Resultat zur Entwicklung von Symptomen, Entwicklungsdefiziten oder Selbstentfremdungen (nach Winnicott: „falsches Selbst“).
  • Die Entwicklung des Säuglings wird also nicht mehr in einer „Ein-Person-Perspektive“, sondern von vorn herein als Resultat intersubjektiver Interaktionen gesehen mit dem Schwerpunkt auf dem Umgang der Eltern mit den Gefühlen, Bedürfnissen und Fantasien des Kindes. Diese Dynamik entscheidet über die Entwicklung eines integrierten versus pathologischen Selbst.
  • Weitere wichtige Säuglingsforscher waren unter anderen Hanus und Mechthild Papousek, Beatrice Beebe und Frank Lachmann.

Weitere Quellen seien, so Ehrmann neurologische Erkenntnisse wie:

  • die Entdeckung der sogenannten „Spiegelneurone“ (Giacomo Rizolatti 2006) als angebliche neuronale Basis der Empathie und
  • die Unterscheidung zwischen zwei Formen von Gedächtnis:
    – dem (früheren) implizit-prozeduralen Gedächtnis, in dem präverbale Beziehungserfahrungen als emotional-vegetative Zustände abgespeichert sind, die kognitiv-begrifflich nie zugänglich gewesen sind, und die den Inhalt des „relationalen Unbewussten“ bilden, das keine semantisch-sprachliche Struktur besitzt, das nicht erinnert, sondern nur aus „Enactments“ (Handlungs-Inszenierungen) erschlossen (und daher auch nicht gedeutet) werden kann, das sogenannte „Körpergedächtnis“, und
    – dem (erst ab ca. dem 18. Lebensmonat sich entwickelnden) explizit-deklarativen Gedächtnis, in dem biografisch erinnerbare Inhalte gespeichert sind, die verbal, semantisch, begrifflich bzw. bildhaft kodiert sind und daher in der Therapie „deutbar“ sind.

Die Bindungsforschung insbesondere von John Bowlby und Mary Ainsworth hat ab etwa 1960 ein angeborenes Bedürfnis nach Bindung als eigenständiges Motivationssystemen herausarbeiteten und vier „Bindungsstile“ beschrieben:
– sicher,
– unsicher-vermeidend,
– unsicher-ambivalent,
– desorientiert-desorganisiert,
wobei unter Stress spezifische Muster von „Bindungsverhalten“ aktiviert werden, das das Ziel hat, Nähe und Sicherheit herzustellen,

Im Mentalisierungskonzept nach Peter Fonagy und Mary Target wurde das „Nachdenken über sich selbst und andere als Erlebniswesen“ untersuchten als Fähigkeit, Rückschlüsse aus Verhaltensweisen anderer Menschen und sozialen Rückmeldungen auf mentale Zustände (Gefühle und Motive) in anderen und in sich selbst zu ziehen. Dies mündet mit etwa 3 Jahren in reife Reflexionsfähigkeit aus einer „Meta-Position“ heraus, in der das Kind erkennen kann, dass soziale Prozesse mentale Bedeutungen haben können. Die Autoren unterschieden drei zeitlich aufeinander folgende „Wahrnehmungsmodi“:
– den (frühen) Äquivalenzmodus in dem das Kind konkretistisch denkt und Phantasie bzw. sein subjektives Erleben unmittelbar für Realität hält (was dem Erleben von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen entspricht: für sie IST der Therapeut die Übertragungsperson, die Übertragungen werden unreflektiert „enacted“, also interaktiv hergestellt),
– der (erst später sich entwickelnde) Ob-Modus, in dem das Kind lernt, mentale Bedeutungen zu erfassen (z.B. SPIELT das Kind die Mutter, ist sich aber darüber klar, dass es nicht die Mutter IST), was reflektierendes Nachdenken über innere Zustände in sich selbst und in anderen Menschen ermöglicht (für die Therapie bedeutet das, dass auf dieser Entwicklungsebene Übertragungen als solche erkannt und thematisiert werden können),
– den Reflexionsmodus (ab ca. dem 4. Lebensjahr), in dem das Kind zu voller Mentalisierung und damit Selbstreflexion und Empathie fähig ist,
wobei auch Erwachsene auf frühe Erlebnismodi zurückfallen können.

Konsequenzen für die Behandlungspraxis

Aus intersubjektiver Sicht entsteht, entwickelt und verändert sich das Selbst des Kindes in einem intersubjektiven Beziehungsfeld. Das Individuelle entwickelt sich also aus der Bezogenheit heraus (und nicht umgekehrt wie bei Freud.) Auf dieser Idee aufbauend wird der Therapeut nicht mehr wie in der freudschen Psychoanalyse als „undurchsichtiger Spiegel“ und „emotional unbeteiligter Chirurg“ gesehen, sondern als aktiver Teilnehmer und Mitgestalter des therapeutischen Prozesses. Grundkonzept ist die Idee der Gegenseitigkeit und Bezogenheit im Rahmen eines gemeinsamen mentalen Zustandes, der der primäre Gegenstand der psychotherapeutischen Arbeit ist.

In interaktioneller, dyadischer Betrachtungsweise wird Psychotherapie als Prozess wechselseitiger Beeinflussung gesehen. Die Wirklichkeit der psychotherapeutischen „Begegnung“ (Ermann) wird als ein durch Interaktionsschleifen ko-konstruiertes Beziehungsfeld verstanden, in dem sich durch beiderseitig unbewusste Kräfte geprägte jeweils subjektiven Welten „begegnen“. Psychopathologie wird (Kohut folgend) biografisch primär aus Mängeln der „Selbstobjektfunktion“ der primären Bezugspersonen erklärt.

Besonders in der Arbeit mit Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen wird der Fokus der therapeutischen Arbeit auf das prozeduralen-relationale (d.h. präverbale, vorbegriffliche) Unbewusste gelegt, das sich in „prozeduralen Übertragungen“ (also durch Enactments, auf der Handlungsebene) ausdrückt. Aufgabe der Therapie ist es, diesem „archaischen Selbst“ Symbolisierungen und Verbegrifflichungen zur Verfügung zu stellen. Die Therapie spielt sich dabei vor allem auf der Ebene des nonverbalen Gefühlsaustausches, des Handlungsdialoges, also der Inszenierung von Beziehungsereignissen ab.

Daher sind nonverbale-atmosphärische Erfahrungen des Patienten in der Therapie sowie ein entwicklungsfördernder Umgang des Therapeuten mit ihm grundlegend für einen konstruktiven therapeutischen Prozess. Der Fokus wird auf die aktuelle Gestaltung einer hilfreichen, haltgebenden Beziehung, also auf die interpersonelle Haltung des Therapeuten gelegt.

Als entscheidender Faktor für den therapeutischen Prozess wird nicht mehr primär die Förderung von Einsicht in Abwehr-und Übertragungsdynamiken gesehen, sondern vielmehr die Möglichkeit zu korrektiven Beziehungserfahrung des Patienten in der Therapie. Die Therapie soll daher nicht in einer kühlen, nüchternen, distanzierten Atmosphäre, sondern vielmehr in einer empathisch-akzeptierenden, entwicklungsfördernden Atmosphäre stattfinden, in der auch der Therapeut als Person präsent ist (nach Kohut: das „therapeutisches Ambiente“).

Die Übertragungsprozesse werden als dynamische Einheit von Übertragungen des Patienten, Gegenübertragungen des Therapeuten auf diese, Eigenübertragungen des Therapeuten auf den Patienten und Gegenübertragungen des Patienten auf diese betrachtet (wobei Ermann darauf hinweist, dass es sich dabei in der Praxis um eine kaum noch unterscheidbare „intersubjektive Übertragungsmatrix“ handelt).

Der Therapeut solle für den Patienten eine sichere, akzeptierende, wertschätzende Basis sein. Ziel der psychotherapeutischen Arbeit ist die Stärkung der Selbstregulationsfähigkeit und der Kohäsion des Selbst des Patienten durch Einfühlung und Anerkennung durch den Psychotherapeuten, wobei der Patient die „entwicklungsförderliche Haltung“ des Therapeuten allmählich „durch Identifikation“ verinnerlicht. Dabei werden die Bedürfnisse des Patienten nach Bindung, Anerkennung, Spiegelung, persönliche Reaktion und Kontinuität (auch gegenüber dem Therapeuten) nicht als Abwehr gedeutet, sondern als gesund anerkannt.

Der Therapeut übernimmt für den Patienten eine haltgebende „Selbstobjektfunktion“, indem er den Patienten als Mensch annimmt, sich empathisch in ihn einfühlt und ihn angemessen spiegelt. Der psychotherapeutische Fortschritt geschieht weniger durch kognitive Einsicht, sondern primär durch einen Prozess der Nachentwicklung in einer haltgebenden Beziehungsumgebung. Die Untersuchung der psychischen Dynamik des Patienten wird ergänzt durch intensive Selbstreflexion des Therapeuten über das, was sich zwischen beiden ereignet. Auf diese Weise kann die pathologische Perspektive des Patienten „dezentriert“, d.h. durch angemessene Spiegelung im Erleben des Therapeut und in der therapeutischen Interaktion ergänzt, relativiert und verändert werden.

Therapie wird als gemeinsames Nachsinnen über das intersubjektiv Ko-Konstruierte in einem Zustand der „Reverie“ (träumerischen Versunkenheit) in entspannter Atmosphäre verstanden. Die Aktualdeutungen (das Herstellen von Bezügen zwischen dem, was in der Therapie erlebt wird und dem aktuellen Kontext des Patienten) werden allmählich ergänzt durch biografische Deutungen. Dabei fördern die durch persönlich gefärbte Wahrnehmungen geringfügig veränderten (nach Fonagy: „markierten“) Spiegelungen des Erlebens des Patienten durch den Therapeuten auf besondere Weise dessen Selbstentwicklung.

Das Konzept der therapeutischen Distanz wird ersetzt durch die Idee der „optimalen Distanz“:

  • ist der Abstand zwischen Therapeut und Patient zu weit, dann wird der Therapeut dem Patienten fremd und macht ihm Angst,
  • ist der Abstand zu nah, kommt es zu Erlebnissen der Verschmelzung, und der Prozess wird therapeutisch unproduktiv.

Therapie wird als reflektierende Untersuchung des intersubjektiven Interaktionsfeldes verstanden. Ziel der Behandlung ist der Versuch, in einer explorativen Haltung durch Empathie und Introspektion gemeinsam zu verstehen, wie das emotionale Erleben organisiert ist (nach Donna Orange: „Arbeit IN der Übertragung“). Die traditionelle Hierarchie zwischen einem „unwissenden“ Patienten und einem „wissenden“ Therapeuten soll aufgehoben und durch einen kooperativen, dialogischen Untersuchungsprozess ersetzt werden.

Dabei kommt es unweigerlich zu Beziehungskrisen zwischen Therapeut und Patient durch Empathieversagen des Therapeuten, wodurch alte, pathologische Beziehungsmuster des Patienten aktiviert werden, die entsprechende „Widerstände“ auslösen. Diese werden durch Untersuchung ihrer Anlässe, Auswirkungen und Bedeutungen geklärt, indem die zu Grunde liegenden Übertragungen und Gegenübertragungen alter Beziehungsmuster herausgearbeitet werden.

Kritik

Bei aller Differenziertheit der Reflexion und Begrifflichkeit, die für psychoanalytische Ansätze typisch ist, bleibt folgende grundlegende Frage letztlich unbeantwortet:
Wie GENAU ist das Verhältnis zwischen

  • Intersubjektivität (Begegnung, Dialog, Selbstöffnung, Ko-Kreation, Bezogenheit, Beteiligtsein, Aufhebung der professionellen Hierarchie etc.)

und

  • Professionalität (Asymmetrie, Verantwortung des Therapeuten, berufliche Kompetenz, Hilfe-Ersuchen des Patienten, Selektivität der Selbstöffnung, Heilungsauftrag an den Therapeuten, Dienstleistungsvertrag etc.)?

Ermann überlässt diese Frage in der Praxis der Erfahrung und professionellen Kompetenz des Therapeuten, was diesen aber wiederum zum „wissenden Fachmann“ macht.

Ermann übernimmt in der Beschreibung der therapeutischen Interaktion den Begriff „Begegnung“ von Martin Buber, ohne darauf hinzuweisen, dass (wie Buber selbst ausdrücklich ausgeführt hat) Psychotherapie aufgrund der darin enthaltenen Asymmetrie niemals „Begegnung“ in dem von ihm gemeinten Sinn sein kann. Das Verhältnis zwischen Intersubjektivität und Professionalität müsste daher in seiner Dialektik differenziert herausgearbeitet werden. Mir ist nicht bekannt (ich lasse mich gern belehren), dass das schon jemand gemacht hätte.

Ebenso ist das Verhältnis von „Einsicht durch Deuten“ auf der einen und „korrektiven Erfahrungen“ auf der anderen Seite als zentrale Faktoren des psychotherapeutischen Prozesses nicht klar herausgearbeitet. Ermann ordnet ersteres den „reifen Neurosen“ und zweiteres den „frühen Persönlichkeitsstörungen“ zu, wobei es sich dabei in der therapeutischen Praxis weniger um zwei unterschiedliche Personengruppen, sondern häufig eher zwei Ebenen der Betrachtung von Dynamiken in derselben Person handelt.

Wenn man die haltgebende Beziehung in der Psychotherapie (nach Rogers und Kohut) als zentralen psychotherapeutischen Faktor sieht, was bleibt dann eigentlich von den grundlegenden psychoanalytischen Konzepten (wie z.B. Deutung von Widerstand und Übertragung) noch übrig? Handelt es sich bei „haltgebende Athmosphäre“ und „biografischem Deuten“ um zwei jederzeit relevante Ebenen der therapeutischen Arbeit? Muss das unterschiedlich bei verschiedenen Patientengruppen angewandt werden (Persönlichkeitsstörungen versus „reife“ Neurosen)? Oder sind das zeitlich aufeinander folgende Phasen der Therapie? Oder ist zweiteres heute überholt und ersteres nun „state of the art“? Diese Frage ist so weit ich sehe (ich lasse mich belehren) noch nicht ausgearbeitet.

Ausgesprochen ärgerlich finde ich es, dass, wie zu Beginn schon erwähnt, die Quellen und Bezüge zur humanistischen Psychotherapie nicht benannt oder in ihrer Relevanz nicht dargestellt werden. So hat der Begründer des Psychodrama, Jakob Moreno, bereits ab etwa 1914 auf die Relevanz von persönlicher Begegnung im Rahmen von therapeutischen Interaktionsfeldern hingewiesen. Martin Buber hat 1923 in seinem bekannte Buch „Ich und Du“ die Basis einer Begegnungs- und Dialogphilosophie gelegt – das wird von Ermann nur ganz beiläufig erwähnt. Fritz und Lore Perls, die Begründer der Gestalttherapie, haben ab etwa 1950 das Kontakt- und Beziehungsgeschehen zwischen Therapeut und Patient (das „Zwischen“) ins Zentrum ihrer psychotherapeutischen Arbeit gestellt. Carl Rogers, der Begründer der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie hat ab etwa 1960 auf sehr differenzierte Weise die grundlegenden Bestimmungen der Gestaltung einer konstruktiven therapeutischen Beziehung beschrieben und dabei explizit die Relevanz von Empathie, Akzeptanz, Wertschätzung und Authentizität des Therapeuten herausgearbeitet. Der Name Rogers wird von Ermann (und soweit ich weiß auch von Kohut, sowie in der gesamten mir bekannten Literatur der intersubjektiven Psychoanalyse) kein einziges Mal erwähnt. Die in der intersubjektiven Psychoanalyse weitgehend übernommenen Konzepte von Kohut kommen der Arbeitsweise von Carl Roger sehr nahe (ihre Arbeitsweise ist in der Praxis nach meiner Erfahrung mit dieser sogar praktisch identisch). Obwohl Roger ebenso wie Kohut in Chicago lebte, hat er seine Konzepte Jahrzehnte vor Kohut veröffentlicht. Auf diesen Bezug nicht hinzuweisen erscheint mir wissenschaftshistorisch inakzeptabel.

Schwer zu ertragen ist es auch, dass in der intersubjektiven Psychoanalyse der Begriff „Objekt“ für das Gegenüber, also die Personen, mit denen der Patient in Beziehung steht, auch für den Therapeuten, weiter verwandt wird. Meines Erachtens ist es eine Form von Beziehungspathologie, die sich sprachlich spiegelt, andere Menschen als „Objekte“ und nicht als Ko-Subjekte zu betrachten und zu behandeln. (Martin Buber hat das als versachlichende Ich-Es-Beziehung beschrieben.)

Die in der Psychoanalyse verbreitete Tendenz zur Pathologisierung normaler oder ressourcenvolle Aspekte findet sich auch in der intersubjektiven Strömung wieder. Normale und Gesunde Entwicklungs- und Beziehungsdynamiken werden mit pathologisch konnotierten bzw. Abwehrbegriffen wie „Projektion“, „Identifizierung“,  „Narzissmus“ usw. erklärt und beschrieben.

Besonders den weiblichen Patientinnen und Therapeutinnen wird überhaupt nicht gefallen, dass auch in der intersubjektiven Psychoanalyse weiterhin durchweg von der „Mutter“ anstatt geschlechtsneutral von „Eltern“ oder präziser von „primär Bezugspersonen“ gesprochen wird.

Auch wird weiterhin in Bezug auf menschliche Motivationen häufig von „Trieben“ gesprochen. Zwar wird die (animalische) Triebdynamik konzeptuell ergänzt durch soziale Beziehungs- und Bindungsbedürfnisse, aber auch diese verbleiben letztlich auf einem vormenschlichen Niveau. Auch Tiere haben Bedürfnisse nach Bindung, Geborgenheit, Kontakt, Sicherheit usw. Die Motivationstheorie der intersubjektiven Psychoanalyse bewegt sich somit weiterhin im vormenschlichen Bereich. Die Motivation des Menschen, sofern sie spezifisch menschlich ist, ist in ihrer Theorie nicht präsent. (Eine humanistische Motivationstheorie der höheren, spezifisch menschlichen Bedürfnisse wurde bereits 1954 von Abraham Maslow ausgearbeitet.)

Problematisch finde ich auch, dass die intersubjektive Psychoanalyse primären Bezug auf Forscher nimmt, die aus der psychoanalytischen Gemeinde ausgeschlossen bzw. jahrzehntelang von dieser ignoriert wurden, wie z.B. Bowlby, Kohut und die Säuglingsforscher. Ein selbstkritischer Umgang mit den Ausgrenzungstendenzen aus dem vielfach mit gutem Grund als „Sekte“ bezeichneten psychoanalytischen Mainstream steht – innerhalb des Mainstream selbst – soweit ich sehe noch aus.

Wie viele psychotherapeutische Kollegen übernimmt auch Erman unkritisch neurologische Konzepte für die Psychotherapie, insbesondere die Idee, dass die sogenannten „Spiegelneurone“ die neurologische Basis für empathische Prozesse seien. Zum einen erscheit es mir nicht plausibel, dass ein hochkomplexer intersubjektiver Prozess wie Empathie von einzelnen Neuronen erledigt werden könnte. Darüber hinaus trägt meines Erachtens die objektiv-medizinische Untersuchung biologischer Nervenprozesse nichts zum Verständnis psychischer oder intersubjektiver Prozesse bei (Stichwort „biophysikalischer Reduktionismus“).

Obwohl Ermann wie viele Vertreter der intersubjektiven Psychoanalyse betont, dass die „intersubjektive Wende“ zu einer „Neudefinition aller psychoanalytischer Begriffe“ führen müsse, sowie dazu, dass sich der Therapeut „als Mensch“ in den therapeutischen Prozess einbringen müsse, bleiben diese Ideen weitgehend schlagwortartig bzw. als bloßer Anspruch stehen. Im Detail werden die alten Begriffe der naturwissenschaftlichen Ein-Personen-Psychologie („Trieb“, „Objekt“, „Verfügbarkeit“, „sich als Objekt verwenden lassen“, „Funktion als Selbstobjekt“, „Heilung durch Identifikation mit der Perspektive des Therapeuten“, „Widerstand“ usw.) weiter benutzt.

Inwiefern sich auch intersubjektiv orientierte Analytiker tatsächlich „als Mensch“ in die Therapie einbringen, bleibt vage. Aus kurzen Fallvignetten in der intersubjektiven Literatur meine ich erkennen zu können, dass dieses Sich-Einbringen wenn überhaupt nur sehr rudimentär geschieht.

Wenn Übertragung und Gegenübertragung als intersubjektive Phänomene betrachtet werden, inwiefern kann man dann überhaupt noch von Übertragungen des Patienten sprechen und diese zu psychotherapeutischen Zwecken aufdeckend untersuchen? Wie könnte der Therapeut Übertragungen „deuten“ oder auch nur bei deren Verständnis hilfreich sein, wenn er doch selbst in den Prozess und die Dynamik wechselseitiger Übertragungen emotional und auch unbewusst eingebunden ist?

Der eher verbal-kognitiven Tradition der Psychoanalyse folgend begrenzt sich auch die intersubjektive Psychoanalyse weiterhin auf verbale Interaktionen mit dem Patienten und gemeinsames „Nachsinnen“. Was als prä-, para- oder nonverbal betrachtet wird, ist lediglich der atmosphärische Kontext der verbalen Äußerungen von Therapeut und Patient. Auf die (in der humanistischen Psychotherapie detailliert ausgearbeiteten) Möglichkeiten der szenischen und körperlichen Interaktion (beispielsweise durch Rollenspiele und in der Körperarbeit) wird weiterhin vollständig verzichtet.

Der Zustand, in dem sich die Therapie abspielt, wird als „träumerische Versunkenheit“ beschrieben, also im Grunde als Trancezustand. Dieser wird aber – bei aller Selbstreflexion – nicht als solcher benannt und untersucht, und die interessanten therapeutischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben (und die in der Hypnotherapie detailliert ausgearbeitet wurden), werden nicht erkannt und nicht genutzt.

Ebenso bleibt der Begriff „optimale Distanz“ ein wenig ausgearbeitetes Schlagwort. Welche Distanz genau „optimal“ ist, woran man merkt und wie der Therapeut damit umgehen kann, wenn diese z.B. verlassen wird, wird nicht erläutert.

Wenn im therapeutischen Konzept die zentrale „Selbstobjektfunktion“ des Therapeuten (also das haltgebende Spiegeln) betont wird, so ist das noch nicht Intersubjektivität. Der Therapeut als Subjekt ist dabei nämlich nicht Teil des Prozesses. Vielmehr erfüllt der Therapeut auch hier lediglich eine Funktion für den Patienten, er selbst als Person ist nicht präsent, er erscheint nicht in seiner individuellen Persönlichkeit als Subjekt. Der Begriff „Intersubjektivität“ wird hier also letztlich gar nicht erfüllt.

Die Begriffe „Übertragung“ und „Beziehung“ werden nicht klar abgegrenzt. Es wird häufig von Übertragung gesprochen, wo eigentlich Beziehung gemeint ist.

Ermann überlässt es der Erfahrung und professionellen Einschätzung des Therapeuten, zu entscheiden, was, wie und wann er im Sinne einer „selektiven Selbstenthüllung“ von sich mitteilen möchte, weil er glaubt, dass das dem Patienten in seinem therapeutischen Prozess nutzt. Somit bleiben Zeitpunkt, Form, Art und Umfang der Selbstenthüllung des Therapeuten doch wieder dem „fachmännischen Wissen“ des Therapeuten überlassen.

Obwohl die Konvergenz zwischen intersubjektiver Psychoanalyse und humanistischer Psychotherapie grundsätzlich zu begrüßen ist, verbleiben also weiterhin traditionelle Differenzen und wichtige unausgearbeitet Bereiche auf beiden Seiten.

Werner Eberwein