Was ist Humanistische Psychotherapie?

Humanistische Psychotherapie (HP) versteht sich als wissenschaftlich begründetes und evaluiertes Heilverfahren für psychische Störungen.

Psychotherapeutisch behandlungsbedürftige psychische Krankheit wird verstanden als gravierende und sich über einen gewissen Zeitraum hin erstreckende Dysregulation der biopsychosozialen Interaktion, die mit einem subjektiven Empfinden von psychischem Leid und mit Erfahrungen multipler Entfremdung einhergeht, z.B. einer Entfremdung vom Körper, von den eigenen Gefühlen, vom sozialen Miteinander, von den eigenen Fähigkeiten, Grenzen, Strukturen oder Bindungen.

Solches verfestigtes psychisches Leid entsteht biografisch durch pathogene Beziehungsmuster, insbesondere durch:

  • Deprivation – wenn einem Menschen etwas fehlt, was er lebensnotwendig braucht,
  • Invasion – ein gewaltsames Durchbrechen schützender Intimitätsgrenzen,
  • Repression – die anhaltende Unterdrückung vitaler Lebensimpulse, oder
  • Konfusion – dauerhaft verwirrende und widersprüchliche Kommunikationsmuster.

Pathogene Beziehungserfahrungen (einzelne traumatische Ereignisse oder dauerhafte Beziehungsverstrickungen) die emotional unerträglich sind werden abgewehrt, also verdrängt oder gespalten. Die Abwehr funktioniert jedoch oft nicht vollkommen oder nicht dauerhaft, dann wird das Leben und Erleben durch das Abgewehrte affiziert. Der Patient spürt etwas in sich, das mit dem Modell, das er von sich selbst hat, nicht übereinstimmt. Er hat Anteile in sich, die nicht zu ertragen sind, die aber auch nicht auf Dauer vom Bewusstsein ferngehalten werden können; sie treten in verzerrter Form ins Erleben als das, was der Patient als Symptome schildert.

Historisch gesehen wurden in der HP – wie in den drei anderen Grundorientierungen (psychodynamisch, verhaltenstherapeutisch und systemisch) auch – unterschiedliche Schwerpunkte ausdifferenziert und mit eigenen Bezeichnungen versehen, die nun in der Terminologie des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) „Methoden“ der HP sind. Hierzu zählen:

  • Personzentrierte Psychotherapie,
  • Gestalttherapie,
  • Psychodrama,
  • Körperpsychotherapie,
  • Existenzanalyse/Logotherapie und
  • Transaktionsanalyse.

In jeder dieser Methoden der HP wurde eine Vielzahl von Interventionsmöglichkeiten entwickelt, die in Passung zum Beschwerdebild, zur Situation und zu den verfügbaren Ressourcen entfaltet werden. In Ausbildung und Praxis wurden die Methoden der HP schon immer integriert vermittelt und angewandt im Sinne eines „learning from many masters“.

Die HP sieht den Menschen

  • in seinem Erleben und Handeln als Subjekt – also als mündigen Menschen und fördert das unmittelbare Wahrnehmen seiner selbst und der Welt mit seinen Sinnen, den authentischen und respektvollen Ausdruck sowie die Fähigkeit, sich neu zu entscheiden,
  • als aktiv handelndes Wesen, wobei der Begriff des Handelns über bloßes Verhalten hinausgeht: Handeln ist Aktivität aus Entscheidungsfreiheit im Gewahrsein emotionaler Dynamiken, im Prozess der Bewusstwertung unbewusster Anteile und im Bewusstsein für die sozialen und ökologischen Folgen der eigenen Handlungen,
  • als Leibwesen, wobei als „Leib“ der gespürte, erlebter Körper verstanden wird, der man „ist“, im Unterschied zum physikalischen Körper den man „hat“ (wenn ich mir die Fingernägel schneide, dann behandele ich sie quasi wie Objekte, wenn ich mir dabei aber in den Finger schneide, dann spüre ich das als Leib),
  • biografisch in den Zusammenhängen seiner Lebensgeschichte, die nicht nur in die Vergangenheit weisen, sondern auch auf die Zukunft seines Lebens hin ausgerichtet sind: Menschen leben nicht nur wegen etwas, sondern auch für etwas, sie sind nicht nur aus Ihrer Gewordenheit heraus, sondern auch in Hinblick auf ihre (bewussten oder unbewussten) Lebenspläne hin bestimmt,
  • als soziales Wesen – wie ein Mensch ist, wie er fühlt, was er tut, worunter er leidet und wie er sich verändert, ist nicht nur aus seiner eigenen Psyche heraus zu verstehen, sondern nur in seiner Eingebundenheit in biologische, ökologische, soziale, politische, ökonomische und historische Beziehungen.

In der HP wird die intersubjektive und kooperative therapeutische Beziehung so gestaltet, dass das Bedürfnis des Patienten nach Selbstaktualisierung und kreativer Ressourcennutzung unterstützt und die Transformation von Leid aufrechterhaltenden Mustern des Erlebens und Handelns gefördert wird.

HP ist ein emotionszentriertes Verfahren: die Gefühle des Patienten stehen im Mittelpunkt. Sie werden körperlich wahrgenommen, und sie beeinflussen unsere Körperprozesse, aber sie gehen über Körperprozesse hinaus. Sie werden durch Gedanken beeinflusst und beeinflussen die Gedanken, aber es sind keine Gedanken. Gefühle sind subjektiv gespürte Bedeutungen, die uns Orientierung geben, was uns gut tut und was uns nicht gut tut. Sie sind eingewoben in aktuelle und biografische Beziehungsnetze.

HP unterstützt den Patienten durch empathisches Verstehen, Kontakt zu seinen Gefühlen aufzunehmen, sie differenzierter zu spüren, sie zu erkunden und zu verstehen, zu akzeptieren, zu regulieren, verbal und nonverbal angemessen auszudrücken, zu nutzen (z.B. als Informations- oder als Kraftquelle), und ggf. zu Verändern (z.B. Angst als kraftsspendende Erregung zu erleben).

HP ist ein dialogisches Verfahren: Patient und Therapeut sind miteinander im Dialog, aber auch innerlich im Dialog mit sich selbst, insbesondere mit ihren emotionalen Reaktionen und kreativen Impulsen. Dabei fungiert der Therapeut unter anderem als Moderator der Dialoge des Patienten. Diese Kommunikation findet nicht nur verbal auf der Ebene der Inhalte statt, sondern auch nonverbal auf der Ebene der Körpersprache und der Ausdrucksgesten.

Die Dialoge in der HP können die Gestalt von Auseinandersetzungen annehmen, die mit dem Ziel geführt werden, zu einer Transformation der Beziehungsmuster des Patienten in Richtung auf selbstgewählte, wertorientierte persönliche Lebenpläne beizutragen.

Humanistische Psychotherapie wird verstanden als ein gemeinsames Ringen um konstruktive Antworten auf die Herausforderungen, die das Leben an den Patienten gestellt hat und aktuell stellt. Der Patient wird gefördert und begleitet in seiner Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen wie: „Wofür lebe ich eigentlich?“, „Wie gehe ich mit Erlebnissen von Gewalt, Verachtung, Schmerz oder Verlust um?“ in dem Bewusstsein, dass die Haltung des Patienten zu solchen Fragen erhebliche Auswirkungen auf die emotionale und psychosomatische Befindlichkeit des Patienten hat.

In der Behandlung von psychischen Störungen stellt die HP die Förderung der psychischen Weiterentwicklung des Patienten in seinen sozialen Bezügen in den Mittelpunkt. Dies geschieht unter anderem durch Aktivierung und Entfaltung spezifisch menschlicher Potentiale (Ressourcen) und ist auf ein von persönlichem Sinn getragenes, selbstverwirklichendes, authentisches und sozial verantwortliches Leben hin ausgerichtet.

HP ist fortgesetzte dialogische Erkundung und Transformation der Beziehungs- und Einstellungsmuster des Patienten in Achtsamkeit für Prozesse an der Grenze des Gewahrseins. Im Fokus des Prozesses der HP steht das unmittelbare emotionale Erleben des Patienten in seiner Funktion der Bewertung seiner Lebensrealität auf Basis seiner Bedürfnisse und als Grundlage von Entscheidungsprozessen. Der Patient wird ermutigt, seine zunächst noch unklaren oder unbewussten inneren Prozesse differenziert zu erleben und zu verarbeiten, kognitiv zu integrieren, zu verstehen, der Symbolisierung und Verbegrifflichung zugänglich zu machen und sozial angemessen verbal und nonverbal zu kommunizieren.

Ein zentrales Ziel der HP ist es, die Fähigkeit des Patienten zu Selbstempathie und Mitgefühl zu fördern. Dabei wird die Tendenz des Patienten zur Aktualisierung alter Beziehungsmuster und Einstellungen in der Psychotherapeut-Patient-Beziehung als Möglichkeit gesehen und genutzt um diese Muster dem Erleben und Verstehen im Rahmen der psychotherapeutischen Transformation zugänglich zu machen.

Werner Eberwein