Was ist Hermeneutik?

Unter Hermeneutik versteht man seit dem 17. Jahrhundert in der Philosophie eine Theorie des Verstehens und Auslegens menschlicher Ausdrucksformen (z.B. von Texten, Kunstwerken, wörtlicher Rede usw.). Der Begriff Hermeneutik leitet sich von dem griechischen Wort hermeneuein = erklären, auslegen, übersetzen ab sowie vom Namen des griechischen Götterboten Hermes, der die Beschlüsse des Zeus verkündet und die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt führt. Die philosophische Hermeneutik geht zurück auf Schleiermacher und Dilthey sowie auf Heidegger und vor allem Gadamer und dann auf Habermas. Im Rahmen der Psychotherapie meint der Begriff Hermeneutik das Verstehen und Interpretieren der verbalen und nonverbalen Äußerungen des Patienten sowie der Interaktionen zwischen Patient und Therapeut im therapeutischen Prozess.

Der Ursprung jeder Hermeneutik ist die Erfahrung, dass das Ausgedrückte nicht mit dem Auszudrückenden identisch ist: man kann nicht alles ausdrücken, was in der Seele ist. Der jeweils auszudrückende Sinn (also was jemand auszudrücken versucht bzw. was sich auszudrücken versucht) bleibt immer hinter dem Ausdruck (in Rede, Mimik, Gestik usw.) zurück. Hinter jedem Ausdruck und hinter jedem offensichtlich Ausgedrückten steht ein verborgener Sinn. Dieser kann nur verstanden werden, wenn man hinter das Ausgedrückte geht. Dennoch kann man grundsätzlich mit Sprache, Körperausdruck und Symbolik alles ausdrücken, was überhaupt ausgedrückt werden kann.

Ein Dialog, und ganz besonders der psychotherapeutische Dialog, ist ein Ringen um stimmigen Austausch, sowohl sprachlich als auch nonverbal. Im Austausch wird versucht, bedeutungsvolles Erleben mitzuteilen und miteinander abzugleichen, ohne dass das je ganz gelingen könnte. Dennoch entsteht im Prozess des Dialogs im günstigen (und therapeutisch fruchtbaren) Fall eine Spiralbewegung zwischen den beteiligten Subjekten und ihren Äußerungen, die sich mehr und mehr erweitert und die Wirklichkeit ihres jeweiligen Erlebens immer weiter umgreift.

Die phänomenologisch-existenzialistisch-hermeneutisch orientierte Psychologie versteht sich als Alternative zu einer naturwissenschaftlich verfassten Psychologie, die vorgibt, die menschliche Psyche in Form invarianter Gesetze oder objektiver statistischer Korrelationen erfassen zu können. Aktuelle Versionen der letzteren sind die mathematisch-statistische Psychologie auf Basis der Mathematik und die neurologische Psychologie auf Basis der Hirnforschung.

Nietzsches Idee, dass unsere Welterfahrung nichts faktisch Gegebenes ist, sondern stets auf Interpretationen (Bedeutungszuschreibungen) beruht gilt für die Naturwissenschaften nicht und ist im Bereich der Geisteswissenschaften Gegenstand intensiver Debatten, für die Psychologie und Psychotherapie gilt sie aber allemal. Schon Kant wies darauf hin, dass das subjektive Erleben kein Faktum und auch keine einfache Fotografie eines Faktums ist, sondern immer eine subjektive Verarbeitung, in die unweigerlich sowohl historisch-politisch-ökonomische als auch sozial-kulturelle, individuell-biografische usw. Perspektiven eingehen.

Eine Folge daraus ist, dass wir uns in unserem Erleben reflexiv der Tatsache bewusst werden können, dass wir nicht objektiv-faktisch sondern unweigerlich in Form von Erlebensdeutungen erleben. Ein naives Weltbild nimmt das Erleben der Welt und das Erleben seiner selbst unhinterfragt als faktisch gegeben: „Männer wollen immer nur das eine“, „Frauen sind zickig“, „die Ausländer nehmen uns unserer Arbeitsplätze weg“, „alle Moslems sind potentielle Terroristen“, „in einem Aufzug habe ich das Gefühl zu ersticken“, „mein Bauchweh ist ein Zeichen von Krebs“. Hier wird etwas verdinglicht, also unhinterfragt als Faktum genommen, was in Wirklichkeit eine Interpretation, eine Perspektive ist. Solche unhinterfragten Sinndeutungen sind ein primärer Gegenstand von Psychotherapie, denn sie haben erhebliche Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung sowie auf das psychische und körperliche Wohlbefinden.

Hier entsteht die Frage, wie man denn „hinter“ solche einschränkenden und potentiell Leid aufrechterhaltende Erlebensformen kommen kann. Wie Habermas hervorgehoben hat, ist die Orientierung am sozialen Konsens hier wenig hilfreich, denn dieser kann durchaus lediglich ein falsches kollektives Bewusstsein oder machtgetriebene Ideologien zum Ausdruck bringen. Selbst wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft die Mehrheit der Meinung ist, dass die Erde eine Scheibe ist oder dass Homosexualität eine Krankheit oder gar eine kriminelle Handlung ist, ist das noch nicht „wahr“. Die Mehrheit hat nicht automatisch Recht (tatsächlich hat sie erschreckend oft Unrecht). Das macht den kritischen Diskurs (Habermas) im Rahmen einer freiheitlichen Pluralität erforderlich, der immer durch Machthaber und naive Mehrheiten in Frage gestellt wird. Emanzipatorische Psychotherapie versteht sich als Teil eines solchen Diskurses, als selbstreflexiver kommunikativer Freiraum.

Hermeneutik beinhaltet einen kritischen, dialektischen Impuls, denn im Bereich des Erlebens ist Wahrheit nicht etwas Gegebenes, das ein für alle Mal festgestellt und festgehalten werden könnte, sondern es bleibt stets fragwürdig, was als zutreffend gelten darf. Die Geschwindigkeit des Lichts kann durch naturwissenschaftliche Methoden objektiv exakt gemessen werden, aber wie ein Mensch seine Partnerschaft, seine sexuelle Identität, sein Sinnempfinden, seine Körperlichkeit oder seine Beziehung zu seinem Therapeuten erlebt, kann nicht exakt oder objektiv erfasst oder kommuniziert werden. Skalierungsmethoden („In welchem Umfang fühlten Sie sich heute von Ihrem Therapeuten verstanden auf einer Skala von 1 bis 10?“) sind viel zu flach und eindimensional um intersubjektive Prozesse und subjektives Erleben zu erfassen. Subjektivität und Intersubjektivität arbeitet sich im Erleben in der Interaktion aus, und dieses Ausarbeiten ist ein grundsätzlich endloser Prozess.

Das bedeutet aber wiederum nicht, dass alles Beliebige als wahr erklärt werden könnte, weil ja alles eine Frage der Perspektive sei. Hermeneutik in der Psychotherapie ist ein Ringen um intersubjektive Wahrheit und um stimmigen sprachlichen und nonverbalen Ausdruck und Austausch, aber ohne den Anspruch auf letzgültige Zutreffendheit oder Abgeschlossenheit. Ein verbaler und nonverbaler Ausdruck von Hass gegenüber einem repressiven oder übergriffigen Elternteil kann beispielsweise authentisch oder unauthentisch sein, aber selbst wenn er authentisch ist, kann ein weiteres Erforschen auch noch ganz andere Aspekte, z.B. Gefühle von Verzweiflung, Ohnmacht, Schuld oder Enttäuschung zutage fördern. Insofern ist eine emanzipatorisch-hermeneutische Psychotherapie auf das erfahrungsorientierte Durchdringen eines nur-oberflächlichen, von Abwehrprozessen verfälschten (Leid aufrechterhaltenden) Erlebens ausgerichtet.

Hermeneutik bedeutet in der Psychotherapie also das Bemühen eines Subjekts (des Therapeuten), das Erleben und das Weltverständnis eines anderen Subjekts (des Patienten) zu verstehen sowie das Bemühen des Patienten, sich selbst immer besser zu verstehen, indem er sich im Dialog mit dem Therapeuten ausdrückt und verständlich zu machen versucht und auch das gemeinsame Bemühen von Therapeut und Patient, zu verstehen, was in der Interaktion zwischen beiden geschieht. Hermeneutik ist ein Bemühen um das Erfassen eines zunächst verborgenen oder sich noch ausarbeitenden Sinns als etwas Verstehbares, Verständliches und prozesshaft Verstandenes (dabei aber immer rätselhaft bleibendes). Insofern ist Hermeneutik auch ein Akt des Übersetzens, weil inneres Erleben in äußeres Ausdrücken übersetzt wird, dieses wiederum vom anderen Subjekt in verstehendes Erleben übersetzt werden muss.

Dabei geht es nicht nur darum, schlicht wahrzunehmen, was und wie ausgedrückt wird, sondern zu erfassen, was sich ausdrücken möchte, und welchen Sinn das für beide hat. Es ist nicht davon auszugehen, dass dem Patienten etwas bereits klar ist, und dass die Aufgabe des Therapeuten lediglich darin besteht, das angemessen zu erfassen. Vielmehr ist dem Patienten zu Beginn der Therapie sehr vieles unklar, dem Therapeuten natürlich auch, und beide erkunden im Dialog intersubjektiv und interaktiv, worum es bei dem Patienten geht. Hermeneutische Psychotherapie ist ein dialogisch unterstütztes, interaktives Selbsterkundungs- und Selbsterforschugsbemühungen des Patienten in einem interaktiven, interpersonalen Feld.

Dabei lässt sich ein einzelner Interaktionsakt (z. B. ein einziger Satz eines Patienten, eine Bewegung oder eine Körperhaltung) niemals isoliert, also nur aus sich selbst heraus angemessen verstehen, sondern nur holistisch, also aus dem Gesamtzusammenhang der biografischen, sozialen und historischen Bezüge des Patienten, seinen spezifischen Problemen und Fragestellungen usw. Diese wiederum können natürlich nur sukzessive aus seinen einzelnen Äußerungen allmählich erkannt werden. Es entsteht somit eine spiralförmige Dialektik zwischen einzelnen Äußerungen und der Gesamtheit der Lebenswelt, die von Ast in Anlehnung an Melanchton als „hermeneutische Zirkel“ bezeichnet wurde.

Hierbei ist natürlich kritisch zu fragen, inwiefern das Zusammensetzen von Äußerungs-Elementen zu einem Gesamtzusammenhang selbst bereits theoriegeleitet ist, und ob bei dem Versuch, ein Einzelnes aus der Gesamtheit zu verstehen, nicht vielmehr einer einzelnen Äußerung eine dogmatische Theorie übergestülpt wird (was z.B. in der traditionellen Psychoanalyse m.E. häufig geschieht). Tatsächlich lassen sich diese Gefahren niemals ganz ausräumen, sondern nur fortgesetzt kritisch reflektieren, worauf gerade die Hermeneutik unablässig hinweist. Auch aus diesem Grund kann angemessenes Verstehen niemals zu einem endgültigen Abschluss kommen. Im Versuch zu verstehen irren wir immer wieder aufgrund unzutreffender oder partikularisierender Vorannahmen, die im weiteren Dialog infrage gestellt und entwickelt werden müssen (was die psychotherapeutische Arbeit so spannend macht).

Wie dieser Prozess genau funktioniert, dafür gibt es bisher keine allgemein anerkannten Regeln, und möglicherweise kann es sie nicht geben. Grundlage für die Möglichkeit von interpersonalem Verstehen ist, dass existenzielle Grunderfahrungen in mehr oder weniger großer Intensität von allen Menschen (auch also dem Therapeuten) gemacht werden. Ein Therapeut, der eine gewisse Lebenserfahrung auf dem Buckel hat, hat schmerzhafte Krisen, Verluste, Enttäuschungen, Verrat und Verzweiflung erlebt, und gerade das ermöglicht es ihm, ähnliche Erfahrungen bei einem Patienten empathisch nachzuvollziehen.

Wenn eine Patientin z.B. von einem einer heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Partner berichtet und dabei verzweifelt weint, dann ist das keinem Therapeuten fremd. Auch wenn er genau diese Auseinandersetzungen in genau dieser Form und Intensität exakt so nicht kennt, so hat er doch im Lauf seines Lebens genug schmerzhafte Auseinandersetzungen erlebt, um das Leid der Patientin zumindest annähernd verstehen zu können. Wenn es sich dagegen um Erlebnisweisen handelt, die dem Therapeuten vollkommen fremd (oder zu nah, oder in ihm dynamisch zu geladen und unverarbeitet) sind, dann hat er Schwierigkeiten, zu verstehen, oder er versagt dabei. Regelhaft ist das z.B. ab einer gewissen Intensität von psychotischem oder psychopathisch-kriminellem Erleben zu erwarten, bei dem die Fähigkeit der meistenTherapeuten zum empathischen Verstehen an ihre Grenzen kommen.

Auch hier muss die Möglichkeit kollektiver Irrtümer und ideologischer Bewusstseinsformen stets mitgedacht werden. Es besteht immer die Gefahr, dass Therapeut und Patient sich zwar einig sind, aber dennoch gemeinsamen Illusionen aufsitzen. Ich denke hier beispielsweise an unbewusste aggressive Verbündungen von Patienten und Therapeuten gleichen Geschlechts gegen das andere Geschlecht, an gemeinsame theoriegeleitete Ideologisierung in (z.B. esoterische, religiöse, politische oder psychoanalytische) oder auch um das behagliche Sich-Einrichten in einer harmonisch positiv getönten therapeutischen Beziehung um unangenehme Gefühle und latente Konflikte („negative Übertragungen“) auszublenden.

Zu bedenken ist auch, dass das aktuelle Erleben des Patienten und die aktuelle therapeutische Interaktion zwar im Hier und Jetzt erlebt, aus dieser heraus allein aber nicht verstanden werden kann. Erleben ist immer historisch. Wenn bspw. ein Angstpatient phobisch auf eine relativ harmlose medizinische Behandlung oder auf enge Räume reagiert, so kann das im Hier und Jetzt zwar erlebt und festgestellt, aber nicht angemessen verstanden werden. Es handelt sich um Gefühlsreaktionen auf eine aktuelle Situation, die ihren emotionalen Gehalt und die Intensität ihrer emotionalen Ladung aber nicht aus dem Hier und Jetzt, sondern aus der biografischen Vergangenheit des Patienten erhalten, und nur vor diesem Hintergrund angemessen verstanden werden können. (In der philosophischen Hermeneutik hat erstmals Boeckh auf die Notwendigkeit des historischen Verstehens aufmerksam gemacht.)

In der hermeneutischen Psychotherapie geht es aber nicht, wie oft polemisch-abwertend eingewandt wird, um „psychische Archäologie“, sondern vielmehr darum, inwiefern das biografisch Vergangene (und gesellschaftlich vernetzte) im Gegenwärtigen (zum Teil unbewusst) noch erhalten und wirksam ist. Wir beschäftigen uns in der Psychotherapie genau genommen nicht damit, was vergangen ist, sondern mit dem, was nie Vergangenheit werden konnte, sondern in der Vergangenheit als „bleibendes Jetzt“ fixiert wurde und den Patienten dadurch aktuell weiterhin prägt (insbesondere die Muster, die fortgesetzt psychisches Leid aufrechterhalten).

Die Auseinandersetzung mit der Biografie des Patienten dient also primär dazu, Antworten auf aktuelle Lebensfragen des Patienten zu finden. Wenn bspw. eine von ihrem Vater langjährig schwer missbrauchte Patientin in ihrem heutigen Leben ein Gefühl des Abscheus ihrem eigenen Körper gegenüber empfindet, so ist das nur biografisch zu verstehen. Das biografische Verstehen dient aber nicht lediglich dazu, mechanisch „Ursachen“ herauszufinden, sondern es handelt sich um ein eingefrorenes „ewiges Jetzt“, das aktuell weiterwirkt, somit nie Vergangenheit geworden ist, und nur als solches verstehbar und damit überwindbar wird.

Wie in der philosophischen Hermeneutik vor allem Gadamer und Habermas herausgearbeitet haben, ist Verstehen immer ein Akt des Dialogs. In der Psychotherapie ist damit vor allem die Interaktion zwischen Therapeut und Patient gemeint, aber auch der innere Dialog zwischen verschiedenen Anteilen und Erlebnisebenen in der Psyche beider. Der verstehende Zugang zum Leid des Patienten, der die Möglichkeit seiner Transformation eröffnet, ist somit ein dialogischer Prozess, der nie endet. Wie Habermas und Foucault betonen, müssen dabei soziale Ideologien und verdeckte Machtverhältnisse sowie Funktionslogiken (z.B. die Einbindung der Psychotherapie in die Regelungen der Krankenkassen) mit bedacht werden. Was das bedeutet, wird zum Beispiel deutlich, wenn ein Patient seinen Therapeuten fragt, welche Diagnose er ihm eigentlich „offiziell“ gestellt hat, oder wie der Patient damit umgeht, wenn das Kostenübernahmekontingent der Krankenkasse ausläuft.

Hermeneutik ist immer zugleich auch Ideologiekritik im Sinne einer fortgesetzten verstehenden Durchdringung zunächst unsichtbarer Machtverschleierungsstrukturen. In einer emanzipatorischen hermeneutischen Psychotherapie bemüht sich der Therapeut nach Kräften, einen möglichst herrschaftsarmen Raum herzustellen, in dem kritisch-reflexive Auseinandersetzungen (Diskurse) des Patienten mit sich selbst im intersubjektiven Feld der Interaktion mit dem Therapeuten möglich werden.

Werner Eberwein