Was ist eine Multiple Persönlichkeitsstörung?

Eine Multiple Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F44.81) oder Dissoziative Identitätsstörung (DSM-IV 300.14) ist die schwerste Form pathologischer Dissoziation. Die Diagnose und ihre Erklärung ist in Fachkreisen umstritten.

Eine multiple Persönlichkeit sei dadurch gekennzeichnet, dass in ein und derselben Person innerlich mehrere oder viele unterschiedliche „Teilpersönlichkeiten“ abwechselnd die Kontrolle über das Erleben und Verhalten übernähmen, wobei die Symptomatik

  • weder psychotischer Natur (z.B. Schizophrenie) sei,
  • noch durch Drogen (z.B. durch Halluzinogene),
  • noch durch eine organische psychische Störung (z.B. Epilepsie)

ausgelöst sei.

Die Teilpersönlichkeiten hätten getrennte Bewusstseine und Charaktereigenschaften sowie unterschiedliche Erinnerungen, Vorlieben, Abneigungen, Beziehungen und Gefühle sowie verschiedene Namen. Manche Teilpersönlichkeiten hätten Kenntnis von einigen anderen Teilpersönlichkeiten, ander nicht („Ein-Weg-Amnesie“, „Zwei-Wege-Amnesie“). Manche würden konstruktiv zusammenarbeiten, manche seien verfeindet und bekämpften einander.

An Teilpersönlichkeiten kämen z.B. vor:

  • die Primärpersönlichkeit („Host“),
  • Kind-Persönlichkeiten,
  • Peiniger („Täter-Introjekte“),
  • Opfer,
  • Beschützer,
  • gegengeschlechtliche Persönlichkeiten
  • Beobachter,
  • sowie Dämonen, Geister, verstorbene Verwandte, noch lebende Personen, promiskuitive, suizidale, gewalttätige usw. Persönlichkeiten.

Kennzeichnend für multiple Persönlichkeiten seien spezifische Gedächtnislücken (Amnesien), z.B. könne die Person sich nicht erinnern,

  • wie sie an den Ort gekommen sei, an dem sie sich befinde, oder
  • wer den Einkaufszettel geschrieben habe, der auf ihrem Tisch liege.

Es handele sich jedoch nicht um eine Psychose, etwa eine Schizophrenie, weil

  • die Teilpersönlichkeiten zwar traumatisiert seien, aber die Realitätsprüfung bei jeder einzelnen von ihnen aufrecht erhalten sei; es lägen also – mit Ausnahme der Gespaltenheit in Unter-Persönlichkeiten – keine wahnhaften Realitätsverzerrungen vor, und weil
  • multiple Persönlichkeiten nicht auf antipsychotische Psychopharmaka reagierten.

Der Wechsel von einer Teilpersönlichkeit zur anderen („Switch“ von engl.: umschalten) werde von den Betroffenen nicht bewusst wahrgenommen. Manchmal sei während des „Switchens“

  • ein kurzes Verdrehen der Augen nach oben,
  • Flattern der Augenlider,
  • Zuckungen,
  • Grimmassieren,
  • eine Änderung der Körperhaltung und/oder
  • eine kurze Orientierungsphase

zu beobachten.

Der Begriff „multiple Persönlichkeit“ wurde erstmals 1973 verwandt in dem von der Journalistin Flora Schreiber verfassten Fallbericht „Sybil“ über eine Patienten mit 16 aktiven abgespaltenen Persönlichkeiten (deutsch: dtv 1981). Das Buch wurde zu einem Bestseller, und unmittelbar nach seiner Veröffentlichung erschienen erstmals in den USA mehrere hundert Menschen als multiple Persönlichkeiten in psychiatrischen Praxen. Ein älteres aus der Literatur bekanntes Beispiel einer multiplen Persönlichkeit ist die (erfundene) Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hide von R. L. Stevenson (Reclam 1984).

In der Regel lägen ca. 8-10 Teilpersönlichkeiten vor, manchmal angeblich aber auch mehrere hundert. Die „aktive“ oder „Haupt-„Persönlichkeit wird als „Host“ (von engl. Gastgeber) bezeichnet, die abgespaltenen Persönlichkeiten als „Alters“ (von engl. alternate = anders).

Bei multiplen Persönlichkeiten träten häufig weitere Störungen wie Depressionen, Ängste, posttraumatische Belastungsstörungen, Borderline- oder schizotypische Persönlichkeitsstörungen auf.

Ursachen seien schwere, langdauernde Traumatisierungen im Kindesalter, vor allem durch Mitglieder der Primärfamilie, wie z.B. sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung oder andere schwere Gewaltverbrechen. Die Entstehung der abgespaltenen Teilpersönlichkeiten diene psychodynamisch ursprünglich dazu, die unerträgliche Situation des Traumas notdürftig zu bewältigen, indem das Erleben bzw. der Umgang mit dem Trauma in manche Teilpersönlichkeiten „verpackt“ und von den anderen, vor allem von der Hauptpersönlichkeit, zum Schutz derselben abgespalten („dissoziiert“) gehalten werde.

Der Begriff „Dissoziation“ (v. lat. disassociare = trennen, scheiden, aufspalten) stammt von dem französischen Psychiater Pierre Janet (1859-1947). Er bezeichnet allgemein den Zerfall eines integrierten Funktionsganzen und in der Psychologie den Verlust der Integration des Bewusstseins und der Identität.

Echte multiple Persönlichkeiten scheinen ziemlich selten zu sein. Ihre Häufigkeit wird mit 0,5-1% der Bevölkerung angegeben, wobei Frauen ca. 9x häufiger betroffen sind als Männer. In Therapien zeigten sich die Alters oft erst nach einigen Monaten, manchmal auch erst nach Jahren der Therapie.

Die Therapie der Multiplen Persönlichkeitsstörung hat das primäre Ziel, das Kennenlernen der Teilpersönlichkeiten („Co-Bewusstheit“) und ihre konstruktive Kooperation zu fördern. Es wird in der Literatur davon abgeraten, eine Integration der Teilpersönlichkeiten anzustreben, weil dies von manchen Anteilen als Bedrohung ihrer Existenz empfunden und mit Panik und Hass beantwortet würde.

1984 wurde in den USA die „International Society for the Study of Multiple Personality and Dissociation“ (ISSMP & D) gegründet, die 1994 in „International Society for the Study of Dissociation“ (ISSD) umbenannt wurde. Auf sie geht die Aufnahme der Diagnose „Dissoziative Identitätsstörung“ (DIS) in das internationale Diagnose-Manual DSM-IV zurück.

Kritik

Kritiker stellen infrage,

  • ob es sich bei der Multiplen Persönlichkeitsstörung wirklich um eine genuine Störung handelt oder vielmehr um ein Phänomen, das (unter dem Eindruck einer sensationslüsternen Presse) von gutmeinenden Psychotherapeuten durch hypnosuggestive Techniken (z.B. Ego-State-Therapie nach J. Watson) unwillentlich erzeugt werde,
  • ob es sich bei den berichteten, zum Teil drastischen Traumatisierungen um reale oder um unablichtlich hypnotisch induzierte falsche Erinnerungen handelt, die z.B. in Trance-Zuständen durch Suggestivfragen erzeugt würden,
  • ob die multiplen Persönlichkeiten wirklich so häufig seien, wie angegeben, weil sie in Ländern mit aktiver entsprechenden Presse oder aktiven Selbsthilfegruppen (zum Beispiel den USA oder den Niederlanden) wesentlich häufiger diagnostiziert werden als in anderen Ländern.
  • Seit in den Medien und auf Fachkongressen häufig über multiple Persönlichkeiten berichtet würde, stiegen die Diagnosen steil an.
  • In den USA wurde bereits in mehreren Gerichtsverfahren von der Verteidigung angeführt, der Angeklagte sei nicht schuldig, weil zur Tatzeit eine andere Teilpersönlichkeit aktiv gewesen sei.

Wenn Sie mehr über die Multiple Persönlichkeitsstörung/Dissoziative Identitätsstörung wissen wollen, können Sie zum Beispiel lesen:

  • Van der Hart: Das verfolgte Selbst (Junfermann 2008)
  • Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion (Beltz 2001)
  • Casey & Wilson: Ich bin viele (Rowohlt 1992)
  • Schreiber:  Sybil (dtv 1973)

Werner Eberwein