Was ist eine Borderline-Beziehung?

Unter Klinikern geht man davon aus, dass etwa 6 % der Bevölkerung irgendwann einmal in ihrem Leben eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt. Für mich ist Borderline weniger eine Diagnose als vielmehr ein existenzielles Thema, ähnlich wie beispielsweise Angst, Depression, Abhängigkeit oder Somatisierung.

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Das Thema Angst beispielsweise ist für jeden Menschen relevant. Jeder Mensch hat Ängste, realistische und unrealistische. Was genau die Krankheitswertigkeit einer Angst ausmacht, ist nirgendwo definiert. Ob eine Angst geringfügig oder schwerwiegend ist, kann letzten Endes nur von dem Betroffenen selbst gespürt werden, wobei darin immer Normvorstellungen darüber eingehen, welcher Umfang von Angst (oder von Depression, Abhängigkeit, Somatisierung usw.) noch normal ist, und ab welcher Intensität von einer krankheitswertigen und damit behandlungsbedürftigen Störung gesprochen werden kann.

Für mich ist auch Borderline eine existenzielle Dynamik, die jeder Mensch kennt, und die bei jedem Menschen in bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraussetzungen aktiviert werden kann, ebenso wie jeder Mensch Ängste usw. hat, die ebenfalls in bestimmten Situationen und Konstellationen aktiviert werden können, bis zu einem Grade, wo sie bedrohlich, ja im Extremfall existenzvernichtend werden können.

Borderline ist ein Abgrenzungsproblem. Obwohl der Begriff borderline (von engl. border: Grenze) ursprünglich meinte, dass es sich um eine Störung an der Grenze zwischen einer neurotischen und einer psychotischen Problematik handelt, macht es wesentlich mehr Sinn, davon auszugehen, dass Menschen mit einer aktivierten Borderline-Dynamik erhebliche Schwierigkeiten mit Grenzen haben.

Eine Borderline-Dynamik wird häufig erst dann aktiviert, wenn ein Mensch sich auf zwischenmenschliche Nähe, insbesondere auf eine Liebesbindung einlässt. Dann verwandelt sich eine Person, die vorher liebevoll, zart, zerbrechlich, bedürftig, zuverlässig, reflektiert, solidarisch und stabil wirkte, plötzlich (das kann wirklich sehr schnell gehen) in das genaue Gegenteil. Aus einem süßen Lämmchen wird ein reißender Wolf, aus einem Engel ein Dämon, aus einem warmherzigen, verlässlichen, brüderlichen Freund ein gnadenloser, erbarmungslos zuschlagender Terrorist.

Typisch für die Borderline-Dynamik ist das Hin-und-her-Kippen zwischen diesen beiden Zuständen: Engel und Dämon. Schon ein Tag nach einem über alle Grenzen gehenden Streit ist der zielsicher und erbarmungslos in die wundesten Punkte treffende Dämon verschwunden, und das engelsgleiche, aufmerksame, vor Liebe und Liebesbedürftigkeit überfließende und höchst begehrenswerte Wesen von zuvor ist wieder da, so als ob nichts gewesen sei.

Jedes Gespräch über das am Vortag Gewesene schlägt fehl. Der Borderline-Mensch ist jetzt wieder anders. Es interessiert ihn nicht, wie er gerade noch war. Zwar erinnert er sich, dass er gerade seine Partnerin mit Worten (und nicht selten auch mit Fäusten und Füßen) in Grund und Boden gestampft hat, aber er hat dazu keinen emotionalen Zugang mehr. Jeder Versuch, mit ihm darüber ein klärendes, verarbeitendes Gespräch zu führen führt unweigerlich in eine erneute entgrenzt eskalierende Auseinandersetzung hinein.

Das Kippen zwischen diametral unterschiedlichen und unvereinbaren Teilpersönlichkeiten ist für nahe Angehörige und insbesondere Liebespartner extrem verwirrend. Es ist ihnen unmöglich, eine klare, eindeutige Beziehung zu der Borderline-Person herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten, obwohl gerade das von Borderline-Menschen massiv eingefordert wird: eine stabile, unzerstörbare Bindung, in der sie sich sicher, geborgen und gehalten fühlen können.

Für den Partner eines Borderline-Menschen ist dieses Zerrissensein zwischen Extremen äußerst belastend. Es kann in kurzer Zeit zu einer Zerrüttung der Persönlichkeit des Partners und zu einem Verlust nahezu sämtlicher psychischer Ressourcen führen, was häufig von massiven körperlichem Somatisierungen begleitet ist.

Borderline-Menschen haben allerdings für die Probleme und Schwächen ihres Partners keinerlei Verständnis, ganz besonders dann, wenn deren Leid eine Folge des wild agierenden Verhaltens der Borderline-Person ist. Wenn der Partner instabil wird, dann verliert die Porderline-Person ihren inneren Halt. Sie ist ja selbst innerlich höchst instabil und wird nur von außen durch die Stabilität eines in sich gefestigten Partners zusammengehalten. Wenn dieser durch die zermürbenden Konflikte selbst seinen inneren Halt verliert, wird die Borderline-Person panisch und attackiert ihren Partner, um ihn dazu zu zwingen, ihr wieder Halt zu geben.

Diese Dynamik erinnert an Beziehungen zwischen unsicher gebundenen Kleinkindern und überforderten Eltern: Die Eltern fühlen sich überlastet und befinden sich an den Grenzen ihrer Kraft. Das Kind spürt die Instabilität seiner Eltern, wird unruhig, fängt an zu zappeln, Unsinn zu machen, an den Eltern herumzuzerren und zu schreien. Die Eltern reagieren entweder verzweifelt-kollabierend oder autoritär-aggressiv oder beides zugleich. Dadurch entsteht eine Spirale der Destabilisierung, für die das Kind keine Grenzen kennt, denn diese müssten erst dadurch etabliert werden, dass seine Eltern ihm Halt geben, wozu sie aber nicht oder nicht mehr in der Lage sind. Dieselbe Eskalation der Destabilisierung sehen wir auch bei einer Borderline-Beziehung.

Ist bei einem Paar die Borderline-Dynamik erst einmal entfaltet, wird der Partner von dem Borderline Menschen selbst nach massivsten Angriffen, Beleidigungen oder Drohungen keine Entschuldigung hören und keinen Trost, keine Wiedergutmachung, kein Ausdruck von Reue oder Bedauern erhalten. Im Gegenteil: In geradezu absurder Eindeutigkeit beharrt der Borderline-Mensch darauf, sich in seinen entgrenzten Wutanfällen lediglich gegen die als extrem empfundene Gewalt seines Partners zu verteidigen, wobei diese durchaus aus von außen betrachtet banalen und harmlosen Auslöser bestehen kann.

Borderline-Menschen fühlen sich in intimen Beziehungen so, als ob sie keine Haut hätten, also keine Grenze. Selbst und gerade eine liebevolle Berührung oder eine zugewandte Geste kann bei Ihnen zu extremen Schmerz- oder Schockreaktionen führen und in der Folge zu entgleisten und grenzenlosen Hassattacken. Gerade liebevolle Zuwendung (die von Borderline-Menschen unter massivem Druck eingefordert wird) konfrontiert sie mit der Gefahr, sich in der Bindung aufzulösen und dabei ihre Selbstgrenzen zu verlieren, sich dadurch weder vom Partner noch von eigenen, archaischen Impulsen und Fantasien abgrenzen zu können. Die Folge sind entgrenzte Impulsdurchbrüche und Affektstürme, die sich mit archaischer Gewalt ihren Weg bahnen.

Der Partner wird zunächst versuchen, darauf mit Verständnis, liebevoller Zuwendung, Empathie und Fürsorglichkeit zu reagieren. Dummerweise kann er tun oder lassen was er will, die Borderline-Bombe wird auf jeden Fall explodieren. Dass der Partner keinerlei Möglichkeiten hat, dem zu entkommen, bringt ihn in eine Situation, die mit den Zuständen vergleichbar ist, die die Geheimdienste aller autoritären Staaten etablieren, um Menschen seelisch zu brechen.

In den Geheimgefängnissen aller Diktaturen der Welt wird dem Insassen jede Orientierung genommen, indem alles, was er tut, ja selbst wenn er nichts tut oder versucht, sich angepasst zu verhalten, massiv bis extrem bestraft wird. Wenn der Gefangene beginnt, diese Struktur zu durchschauen, und sich darauf einstellt, etwa indem er sich innerlich verschließt, begegnet man ihm plötzlich und ohne erkennbare Ursache mit Privilegien (z.B. Zigarettenkonsum), einer gewissen Rücksichtnahme (z.B. Aufhebung von Einzelhaft) und Versorgung (z.B. mit Essen, Kleidung usw.).

Da der Gefangene in seiner Abhängigkeit sich nichts weiter ersehnt, als endlich menschlich behandelt zu werden, halbwegs sicher zu sein und materiell einigermaßen versorgt zu sein, kann er nicht anders, als auf diese Angebote einzugehen und sich zu öffnen. Genau dann, wenn der Gefangene beginnt, sich sicher zu fühlen, seine Abwehrbarrieren zu lockern, innerlich aufzuatmen und weich zu werden, wird die Situation wieder ins andere Extrem gekippt. Ohne voraussehbaren Anlass wird er wieder in die Abgründe einer Hölle gestürzt, die er schon kennt. Aber nun ist er wieder empfindsam weil offen. Daher trifft ihn die Gewalt, mit der behandelt wird, mit unvermittelter Wucht. Auf diese Weise wird seine seelische Struktur in kurzer Zeit zerrüttet.

Ich möchte mit diesem Vergleich keineswegs die Brutalität verharmlosen, die von Geheimdiensten in außerstaatlichen Gefängniseinrichtungen praktiziert wird. Aber die Mechanismen, die dort ganz bewusst und gezielt angewandt werden, erlebt auch ein Partner eines Borderline-Menschen, obwohl dieser darüber keine Kontrolle hat, sondern seine eigene Struktur ausagiert, in der er selbst gefangen ist. Der Borderliner kann nicht anders, als so zu agieren. Er fühlt sich tatsächlich als Opfer des anderen und als ob er ständig um sein Leben kämpfen muss.

Borderline-Menschen werden zwingend angetrieben von einem übermächtigen Verlangen, mit ihrem Partner zu verschmelzen und können daher in einer entfalteten Borderline-Dynamik nicht die geringsten Differenzen in Bedürfnissen, Interessen oder Sichtweisen beim Partner akzeptieren. Was als spannender Austausch unterschiedlicher Sicht- und Erlebensweisen begann, wird zu einem Kampf wie auf Leben und Tod um den Partner dazu zu zwingen, jedes Detail der Welt genauso zu erleben, dieselben Wünsche und Bedürfnisse zu haben wie der Borderline-Mensch.

Die Privatsphäre des Partners wird nicht akzeptiert. Kein Handy, kein E-Mail-Account, kein Tagebuch ist mehr sicher und privat. Jedes Treffen mit Freunden wird zur Bedrohung. Insbesondere jede Begegnung mit einer Person des anderen Geschlechts, ja selbst jeder Gedanke an eine solche führt zu dramatischen Entgleisungen.

Borderline-Menschen sind extrem vereinnahmend, können aber mit der Nähe, die sie mit massivem Druck herstellen, nicht umgehen, weil sie Angst haben, darin ihre Identität zu verlieren. Auf gewalttätige Weise versuchen sie, Halt gebende Liebe und Fürsorglichkeit, eine sichere Bindung und Geborgenheit zu erzwingen, was natürlich nicht funktionieren kann.

So zerrissen, wie der Borderline-Mensch sich fühlt, so fühlt sich bald auch sein Partner, und so gestaltet sich die Beziehung. Früher oder später wird der Partner in die Borderline-Dynamik hineingezogen und beginnt selbst, zwischen Phasen extremer, liebevoller Offenheit und Phasen rücksichtsloser Destruktivität zu kippen, wobei erstere immer seltener und zweitere immer häufiger werden. Im Zuge der Entfaltung der Borderline-Dynamik ist es immer weniger feststellbar, wer von beiden Partnern eigentlich die Borderline-Person ist und wer nicht.

Da Menschen, die sich von Borderline-Personen angezogen fühlen, oft selbst eine latente Borderline-Dynamik in sich tragen (mehr als andere Menschen) wird diese in der Borderline-Beziehung aktiviert und eskaliert, so dass letztlich beide gemeinsam das Borderline-Chaos aufrechterhalten. (Ähnliches ist von dem Phänomen der sogenannten Co-Abhängigkeit bei Süchtigen bekannt.)

Durch die extreme Ambivalenz, die ein Partner einer Borderline-Person gegenüber empfindet, ist es praktisch unmöglich, sich eindeutig zu ihr zu bekennen und auf sie einzulassen (weil sie das mit größter Intensität zerstören wird, obwohl sie es zugleich massiv einfordert) noch eine Klarheit darüber zu gewinnen, sich von ihr trennen zu wollen (weil die Borderline-Person darauf mit einem Gemisch aus überschwänglicher Zuwendung und gewaltsamem Festklammern reagiert).

Borderline-Menschen befinden sich zwischen zwei Feuern, die für sie gleichermaßen unerträglich sind: einer panischen Angst vor Alleinsein, mehr noch vor Verlassenwerden und einer ebenso panischen Angst davor, in einer vertrauensvollen Liebesbindung die eigene Identität zu verlieren. Weder eine stabile Bindung, in der sie ihre Identität im partnerschaftlichen Dialog entwickeln und weiterentwickeln können, noch eine respektvolle Art der Trennung oder eine in sich gefestigte Weise, zeitweise allein zu leben, sind in der Struktur des Borderline-Menschen vorgesehen. Daher ist weder eine stabile Bindung noch ein zufriedenes Alleinleben möglich, obwohl Borderline-Personen jeweils das eine erzwingen, wenn sie gerade im anderen leben.

Eine Trennung von einem Borderline-Menschen ist immer dramatisch. Sie geht in aller Regel mit einer kompletten Demontage des Partners, häufig auch mit einer gegenseitigen persönlichen Demontage beider einher, in der besonders all das zerstört wird, was zwischen beiden gut und verbindend gewesen ist, nicht selten gefolgt von endlosen juristischen Auseinandersetzungen um Finanzausgleich, Sorge- und Zugangsrecht, Stalking-Schutz usw.

Psychotherapien im Bereich der Borderline-Dynamik sind für den Therapeuten eine harte Kost. Früher oder später hat der Therapeut Schwierigkeiten, seine Distanz aufrechtzuerhalten und wird in die Borderline-Dynamik hineingesogen. Je intensiver die aktivierte Dynamik ist, je mehr der Patient regrediert und je näher dem Therapeuten der Borderline-Patient emotional ist, umso mehr ist der Therapeut in der Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren und hat das Gefühl, mit dem Kopf in einer Wäscheschleuder zu stecken.

Das Gefühl, bedroht zu sein, die ständige innere Beschäftigung mit psychischen und realen Abwehr- oder Verteidigungsmaßnahmen, fehlschlagen Distanzierungsversuche und Überlegungen, die den Borderline Patientin baldmöglichst loswerden zu wollen, zugleich ein Gefühl intensiver Verbundenheit, einer besonders intensiven Empathie, einer zartfühlenden Fürsorglichkeit und die ständige Gefahr, Grenzüberschreitungen des Patienten zuzulassen und selbst Grenzen zu überschreiten sind typisch für die psychotherapeutische Arbeit mit Borderline-Patienten.

In den letzten Jahrzehnten wurde eine Reihe spezifischer Programme für die Arbeit mit Borderline-Dynamiken entwickelt. Die bekanntesten sind die Übertragungsfokussierte Therapie nach Kernberg, die Dialektisch-Behaviorale Therapie nach Linehan und die Schematherapie nach Young. Daneben gibt es eine Vielfalt spezieller Techniken und Umgangsweisen, die in praktisch allen Therapieverfahren entwickelt wurden.

Neben einem Berg an mehr oder weniger schwer verständlicher Fachliteratur ist in den letzten Jahren eine Reihe von Ratgebern für Betroffene, Partner und Angehörige erschienen. Sie sind auf den bekannten Literaturportalen unter den Suchbegriffen „Borderline“ und „Ratgeber“ leicht zu finden.

Werner Eberwein