Was ist die hermeneutische Spirale?

Das Verstehen des Patienten zielt auf die Person des Patienten als Einheit, in seiner Ganzheit. Einen isolierten, einzelnen Satz, den ein Mensch sagt, eine einzelne Geste, einen einzelnen Körperausdruck kann man für sich genommen nicht verstehen. Wenn man einen Menschen zum ersten Mal sieht, und er sagt z.B.: „Mein Leben ist gerade nicht einfach“, oder er seufzt oder lässt die Schultern hängen, dann kann das vieles bedeuten. Die Bedeutung einzelner Sätze oder Gesten ergibt sich erst aus dem Zusammenhang. Man muss zumindest einiges von der ganzen Person des anderen wissen und verstanden haben, bevor man einzelne Sätze oder Körperausdrücke verstehen kann. Das Ganze der Person wiederum versteht man erst allmählich durch einzelne Äußerungen hindurch.

In der humanistischen Psychotherapie strebt der Therapeut an, den Patienten in seiner Eingebundenheit in seine Biografie, in sein soziales Umfeld, in kulturelle Bedeutungssysteme und existenzielle Sinnsysteme zu verstehen. Solange die Facetten, Ebenen und Aspekte seiner Existenz lediglich blockartig wie eine Matrix aus Textbausteinen zusammengesetzt erscheinen, ist der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit und Einheitlichkeit noch nicht erfasst. Der Mensch besteht nicht aus einzelnen Gedanken, Gefühlen, Ereignissen oder Motiven, die wie Bauklötze bloß nebeneinandergestellt sind, sondern er ist immer ein Ganzer, eine einzige fühlende Person als Einheit all dieser Aspekte.

Das Verstehen kann natürlich nicht mit der Ganzheit beginnen, also mit dem Verstanden-Haben der ganzen Person. Es muss sich durch das Verstehen einzelner Äußerungen und Begegnungen hindurch allmählich aufbauen, die aber stets auf die Ganzeit der Person bezogen sind. Der Prozess des Allmählich-immer-mehr-Verstehens bewegt sich schrittweise durch einzelne Aspekte hindurch, die allmählich ein Gesamtbild durchscheinen lassen, das sich immer wieder als vorläufig herausstellt, daher korrigiert, ergänzt und verändert werden muss. Schon ein einziges neu verstandenes Detail oder ein vorher im Hintergrund gewesener Erlebens- oder Beziehungsaspekt kann den Blick auf die Lebenssituation eines Menschen vollkommen verändern.

Beispiel: Ein Patient teilt im Vorgespräch mit, dass er nicht darüber hinwegkommt, dass seine Frau sich vor einem Jahr von ihm getrennt hat. Der Therapeut hat Schwierigkeiten, das Ausmaß der Verbitterung des Patienten nachzuvollziehen. In der dritten Sitzung erwähnt der Patient wie beiläufig, dass seine Ex-Frau nun mit seinem ehemaligen besten Freund zusammen ist, den der Patient schon seit der Schulzeit kannte, und dass er sich diesem gegenüber schon immer unterlegen fühlte. Nun kann der Therapeut die Intensität der seelischen Erschütterung des Patienten besser verstehen.

Vor dem Hintergrund des schrittweise ganzheitlicher werdenden Verstehens des Patienten werden einzelne Äußerungen oder Erfahrungen des Patienten besser verständlich. Personales, ganzheitliches Verstehen ist ein dynamischer Prozess, der immer wieder auch scheitert und auch gelingt, und der nie an ein letztes Ende kommen kann. Es offenbaren sich immer wieder auch ganz unerwartete Seiten. Jeder Mensch kann immer wieder auch ganz anders sein. Das sich ausweitende und vertiefende Voranbewegen des Verstehens in einer Dialektik zwischen Einzelnem und Ganzem wird von Petzold als „hermeneutische Spirale“ bezeichnet (Petzold 1994).

Werner Eberwein