Was ist das Unbewusste?

In der psychodynamischen Psychologie und Psychotherapie versteht man unter dem Unbewussten einen Bereich der menschlichen Psyche, der dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich ist, aber diesem zugrundeliege, also etwas inneres, das wirkt, aber bewusst nicht unmittelbar erfahrbar oder kontrollierbar ist. Die Hypothese, dass das menschliche Seelenleben aus einem – wie auch immer verstandenen – Unbewussten heraus dominiert wird, ist das Fundament der Psychoanalyse.

In einem im September/Oktober 2013 erschienenen Sonderheft der Zeitschrift „Psyche“ mit dem Titel „Das unbewusste – Metamorphosen eines Kernkonzepts“ beschreibt Werner Bohleber, Lehranalytiker und Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) in Frankfurt, wie sich der Begriff des Unbewussten im Laufe der Geschichte der Psychoanalyse verändert hat.

Das Unbewusste, so Bohleber, sei ein abstraktes Konzept, das wir nur erschließen, aber nie direkt erfassen oder empirisch erforschen können, und das daher unweigerlich metaphorisch beschrieben würde, in der Regel durch Raum-Metaphern:

  • In der freudschen Psychoanalyse ist die Seele übereinander geschichtet, und das Unbewusste befindet sich in der Tiefe, also „unten“.
  • Bei Melanie Klein findet sich eine horizontale Aufteilung – das Unbewusste ist durch projektive Identifizierung in andere Menschen hineinverlagert.
  • In der intersubjektiven Psychoanalyse ist die zwischenmenschliche Beziehung der Ort des Unbewussten, es wird dort implizit in Form von Beziehungen ausgelebt.

Freud kam auf dasKonzept des „dynamischen“ Unbewussten, weil bestimmte Phänomene des Erlebens (z.B. Fehlhandlungen, Träume, psychische Symptome, Zwänge, spontane Assoziationen usw.) durch bewusste Prozesse nicht erklärbar seien. Der Kern des Unbewussten sind für Freud die Triebe (Sexualität und Aggression), die nur indirekt, zum Beispiel in Form von Fantasien, zum Vorschein kämen. Sie unterlägen einer „primärprozesshaften“ Bearbeitung, zum Beispiel durch Verschiebung und Verdichtung, was nach Freuds Meinung typisch für das Denken der frühen Kindheit sei.

Die unbewussten Prozesse bilden, so Freud, den Kern des Wesens und der Wünsche jedes Menschen: „Diese unbewussten Wünsche stellen für alle späteren seelischen Bestrebungen einen Zwang dar, dem sie sich zu fügen haben, den etwa abzuleiten und auf höherstehende Ziele zu lenken sie sich bemühen dürfen.“ (Freud 1900a, S. 609, zitiert nach Bohleber, a.a.O. S. 809). Die archaischen Triebregungen des Unbewussten seien sozial unzuträglich und emotional unerträglich und müssten daher verdrängt werden, kämen jedoch in Form von Fehlleistungen, Träumen oder psychischen Symptomen wieder an die Oberfläche („die Wiederkehr des Verdrängten“). Unbewusste Fantasien seien die treibenden Kräfte, die die psychische Realität jedes Menschen organisierten.

Aktuell geht man in der Psychoanalyse davon aus, dass nicht nur Triebwünsche, sondern auch Bestrebungen zur Aufrechterhaltung des Selbstbewusstseins, des Sicherheitsempfindens und zur Vermeidung unangenehmer Gefühle sowie unbewusste Überzeugungen Inhalte des Unbewussten sein könnten.

Auch das sogenannte implizite oder prozedurale Wissen sei Teil des Unbewussten, weil es sich nicht im autobiografischen (also dem Bewusstsein zugänglichen) Gedächtnis vorfindet. (Dabei handelt es sich beispielsweise um Beziehungsmuster oder automatisierte Fertigkeiten.) Auch die früheren Objektbeziehungen (Repräsentanzen früher Beziehungserfahrungen, innere Objekte, körperlich verankerte sensormotorische Koordinationen, Interaktions- und Handlungsschemata) seien Teil des Unbewussten.

In der Psychoanalyse geht man davon aus, dass das Seelenleben des Menschen stets geprägt ist von Strukturkonflikten. Das persönliche Bindungsverhalten sei z.B. geprägt durch das implizite Beziehungwissen, das stets auch Konflikte zwischen den Intentionen des Selbst und der frühen Bezugspersonen beinhalte, symbolisch aber nicht repräsentiert sei. Nach Auffassung der Psychoanalyse wird die Art, wie wir von den Eltern in der frühen Kindheit behandelt worden sind, als eine Art automatisiertes Programm in unser Unbewusstes eingebaut, und wir leben unweigerlich unser Leben danach.

Der Traum wurde in der Psychoanalyse früher primär als Weg angesehen, auf dem sich unbewusste Wünsche eine imaginärer Erfüllung suchten, und vor diesem Hintergrund wurde er gedeutet. Heute gilt der Traum in der Psychoanalyse als Suche nach Problemlösungen, die der Verarbeitung von Konflikten und der Schaffung neuer Ideen, also der Transformation von Erfahrungen dient und seelisches Wachstum fördert.

In der modernen, intersubjektiven Psychoanalyse kennt man keine unbewusste „Wahrheit“, die schon vorhanden wäre und nur gefunden bzw. aufgedeckt zu werden braucht, sondern nur die Möglichkeit, etwas, was „intersubjektiv ko-kreiert“ ist (z.B. die Beziehung zwischen Analytiker und Analysand) durch Reflexion mit Bedeutung zu versehen. Mit anderen Worten: die unbewusste Bedeutung der Beziehungsinszenierungen in der Psychoanalyse wird nicht gefunden oder wiedergefunden, sondern sie wird kreativ miteinander erschaffen.

Eine ganz andere Konzeption des Unbewussten vertrat Milton Erickson und vertritt in seiner Nachfolge die erickson’sche Hypnotherapie. Hier wird das Unbewusste primär als Speicher latenter Ressourcen, also von Fähigkeiten und Erlebensmöglichkeiten gesehen, die im Zustand der hypnotischen Versenkung kontaktiert und auf aktuelle Probleme angewandt werden können.

Werner Eberwein