Was ist das Selbst?

„Das Selbst“ ist ein Begriff, der in der Psychologie mit vielen, teilweise unterschiedlichen Bedeutungen verwandt wird. In der Regel ist damit gemeint, dass und wie ein Mensch „sich selbst“ als einheitliches, autonom denkendes und handelndes Wesen wahrnimmt, also als ganze Person, als Persönlichkeit.

Von dem US-amerikanischen Psychologen William James stammt die Unterscheidung zwischen dem „Ich“ und dem „Mich“. Diese Unterscheidung wird deutlich z.B. in dem Satz: „Ich nehme mich wahr“.

  • Das „Ich“ im Sinne von James wird als der innerer Beobachter verstanden, als das Kern-Selbst, der Wissende und Wahrnehmende.
  • Das „Mich“ im Sinne von James ist das Wahrgenommene Ich, das Selbstbild, das Selbstkonzept, das beobachtete bzw. gewusste Ich.

Der Begriff des „Ich“, also des Kern-Selbst, des inneren Beobachters ist eng verknüpft mit dem Konzept des freien Willens, der uns eine gewisse Souveränität gegenüber den Anforderungen der äußeren Situation, unserer Konditionierungen und Trieben verleiht. Auch wenn äußere Anforderungen an uns herangetragen werden, auch wenn wir Konditionierungen unterliegen, auch wenn wir den Andrang biologischer Triebe erleben, so sind wir diesen doch nicht ausgeliefert. Wir können uns z.B. entscheiden, uns einem äußeren Druck entgegenzustellen oder uns unseren Konditionierungen oder Trieben entgegengesetzt zu verhalten, wenn wir einem Wert, der uns wichtiger ist, eine höhere Priorität geben.

Das „Mich“, also unsere Vorstellung von der Person, die wir sind, von unseren Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Schwächen, Erfahrungen, Wünschen und Ängsten, also unsere Identität, formt sich im Laufe der Lebensgeschichte heraus. Es entwickelt und verändert sich lebenslang immer weiter, und es verändert sich auch je nach Kontext, Situation und Funktion. Im Beruf sind und fühlen wir uns anders als in der Familie, auf einer Party anders als beim Einkaufen.

Wir können außerdem unterscheiden:

·         das materielle Leib-Selbst, also unser erlebter, gespürter und handelnder Körper und

·         das geistige Selbst, also unsere Psyche, unserenEinstellungen, Werte, Erfahrungen und Gefühle, unsere Persönlichkeit.

Leib-Selbst und geistiges Selbst stehen in enger Wechselwirkung, und sie sind in soziale, historische Dynamiken eingebunden.

Woher weiß man, wer man ist?

Das „Mich“ (das Selbstkonzept, das Selbstbild, die Selbstvorstellung, also das Erleben, wer und wie man ist) besteht aus bewusst erinnerten und unbewusst gespeicherten Erfahrungen. Seine Entwicklung scheint mit ca. 2 Jahren zu beginnen. Das Selbstkonzept bezieht sich zuerst auf äußere Eigenschaften wie Körper, Geschlecht, Alter, Aussehen, später dann auf Überzeugungen, Einstellungen, Charakter-, Gefühls- und Beziehungsmuster, Zugehörigkeiten z.B. zu einer Weltanschauung, Religion, Nation, auf materiellen Besitz, soziale Rollen und Funktionen, geistige Einstellungen, Werte und Urteile sowie Selbstbewertungen (z.B. „Was finde ich gut/schlecht an mir?“).

Das Selbstkonzept entwickelt sich aus Beobachtungen, Bewertungen und Erinnerung eigener Handlungen und Verhaltensweisen, insbesondere in zwischenmenschlichen Interaktionen sowie der damit verbundenen Gefühlsreaktionen und Beziehungsmuster im Vergleich mit anderen Menschen. Hierbei spielen Reaktionen, Rückmeldungen und Zuschreibungen von Mitmenschen sowie die Deutung ihrer nonverbalen Reaktionen eine zentrale Rolle.

Kritische Fragen nach dem Selbst und seiner Realisierung im Leben wie z.B. „Wer bin ich eigentlich?“, „Bin ich wirklich ich selbst?“, „Bin ich authentisch?“, „Lebe ich mein eigenes Leben?“ usw. stellen sich oft in Sinnkrisen und werden dann häufig zum Thema in Psychotherapien.

Der Buddhismus lehnt die Existenz eines Selbst ab. Nach buddhistischer Vorstellung gibt es kein beständiges Selbst, sondern nur einen sich ständig ändernden Fluss von Erfahrungen bzw. Bewusstseinsinhalten.

Was ist das Selbstwertgefühl?

Unter dem Selbstwertgefühl verstehen wir die Bewertung der eigenen Person durch sich selbst in Relation zu Bewertungen der eigenen Person durch Andere und der eigenen Bewertung der Anderen.

Oft ist das generelle Selbstwertgefühl („Wer bin ich als ganze Person?“) unterschieden zum Selbstwertgefühl bezüglich bestimmter Anteile, Fähigkeiten oder Eigenschaften in spezifischen Situationen (z.B. „Wie gut kann ich vor vielen Menschen einen fachlichen Vortrag halten?“).

In unserer narzisstisch geprägten Kultur ist das Selbstwertgefühl und die Selbstliebe stark von Eigen- und Fremdbewertungen bestimmt, die sich u.a. auf Körpermerkmale (v.a. Attraktivität) und Fähigkeiten (v.a. berufliche Leistungsfähigkeit) beziehen. Daher mangelt es oft an einem Gefühl, bedingungslos liebenswert und als ganzer Mensch wertgeschätzt zu sein bzw. sich selbst bedingungslos zu lieben und wertzuschätzen.

Dialogizität und Intersubjektivität

In seinem Buch „Das dialogische Selbst“ arbeitet Frank-Matthias Staemmler einen Begriff des Selbst heraus, das vor Anfang an interaktiv, also dialogisch verfasst ist. Er bezieht sich dabei auf Autoren wie Hubert Hermans, William James, Lew Wygotski und George Herbert Mead sowie auf Michail Bachtin (siehe Literaturverzeichnis).

Der Mensch ist von Anbeginn seiner biografischen Entstehung an dialogisch, also intersubjektiv verfasst. Wie Menschen mit sich selbst und mit anderen umgehen, geht auf vergangenen Interaktionserfahrungen zurück. Das Selbstkonzept entsteht durch „kreative Aneignung“ von verbalen und nonverbalen Interaktionserfahrungen, also gemeinsamen Aktivitäten. Der individuelle Mensch ist von Anfang an und lebenslang nur intersubjektiv zu verstehen.

Menschen sind ständig in Interaktion mit anderen, auch wenn sie allein sind, z.B. in der Imagination und in inneren Dialogen. Besonders zur Vorbereitung und Verarbeitung schwieriger Situationen werden diese im Voraus oder im Nachhinein immer wieder durchgespielt. Aber auch beglückende Erfahrungen mit Anderen werden immer wieder erinnert oder in Form von „Vorfreude“ mental vorweggenommen.

Dialogizität ist immer leiblich („zwischenleiblich“). Vor allem verdeckte, also dem Bewusstsein nicht zugängliche Anteile äußern sich oft nonverbal, z.B. durch kleine Gesten, die Stimmlage, unbewusste Körperhaltungen usw.

Pluralität

Aus den unterschiedlichen Interaktionsmustern mit verschiedenen Menschen und in verschiedenen Situationen und Funktionen entstehen im Laufe der Biografie „Persönlichkeitsanteile“ also Formen des Selbsterlebens (auch bezeichnet als „Teile“, „Rollen“, „Ego-States“ oder „Ich-Zustände“ usw.)

Unterschiedliche, miteinander im Konflikt stehende oder einander ausschließende Interaktionserfahrungen führen zu unterschiedlichen, konfligierenden oder einander ausschließenden „Teilen“ (z.B. „Rollen“ im Beruf, in der Familie, in der Partnerschaft, gegenüber Freunden usw.)

Eine pathologische Form der Aufspaltung in Teile liegt bei Dissoziationen vor, die v.a. bei traumatisierten Patienten vorkommen. Eine extreme (und sehr seltene) Form der Dissoziation ist die „dissoziative Identitätssörung“ („multiple Persönlichkeit“).

Anwendung in der Psychotherapie

In vielen psychotherapeutischen Richtungen wird auf unterschiedliche Weise mit „Teilen“ gearbeitet, z.B. in der Hypnotherapie, im Psychodrama, in der Gestalttherapie, in der Ego-State-Therapie usw. Dabei wird ein Dialog zwischen Selbst-Anteilen und zwischen Selbst-Anteilen und imaginierten anderen Personen angeregt. Dieser kann innerlich stattfinden wie z.B. in der Hypnotherapie oder in Form eines Rollenspiels wie z.B. im Psychodrama oder in der Gestalttherapie. Dabei können vermischte, konfusionierte oder konfligierende Anteile zunächst voneinander getrennt werden, um sie dann miteinander in einen Dialog zu bringen.

Beispiel: Eine Patientin überlegt ernsthaft, sich von ihrem langjährigen Partner zu trennen, mit dem sie eine 3jährige Tochter hat. Ein Teil von ihr will aufgrund anhaltender Konflikte „einfach nur weg“, ein anderer Teil „hat noch Hoffnung“, ein weitere Teil „will meiner Tochter nicht den Vater wegnehmen“ und ein vierter Teil „ist komplett überfordert mit der Situation“. Diese Teile könnten z.B. auf vier Stühle im Raum verteilt werden. Ein fünfter Stuhl könnte die „unabhängige Beobachterin“ symbolisieren. Dann gibt es noch Stühle für den Partner und für die Tochter. Zwischen diesen Positionen wird ein Dialog ausgearbeitet, um die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Erlebensweisen voneinander zu differenzieren, die Konflikte zwischen ihnen auszuarbeiten und die Teile wenn möglich miteinander in einen konstruktiven Dialog zu bringen.

Dabei besteht stets die Gefahr, dass durch den Einfluss eines Therapeuten eine Spaltung der Persönlichkeit des Patienten überhaupt erst entsteht oder latente Differenzierungen zwischen Persönlichkeitsanteilen verstärkt und verfestigt werden. Besonders wenn Teilen Eigennamen gegeben werden (Frage an den Teil: „Wie ist dein Name?“, Antwort: „Ich heiße Peterchen/Paula.“ „Wie alt bist Du?“ – „Zwei Jahre.“ usw.), wenn sie also wie eigene Personen behandelt und nach ihrem Alter, ihrer Geschichte, ihrer Aufgabe und Entstehung usw. befragt werden, besteht die Gefahr, dass sich der Patient danach als in unterschiedliche „innere Persönlichkeiten“ aufgespalten erleben, was therapeutisch problematisch ist.

Literatur

  • Staemmler, F.-M.: Das dialogische Selbst. Postmodernes Menschenbild und psychotherapeutische Praxis. München: Schattauer 2015
  • Hermans, H.J.M. Ed.: Handbook of Dialogical Self Theory. Cambridge/UK: Cambridge University Press 2014
  •  James, W.: William James: The principles of psychology (2 Bd.). New York: Holt 1890.
  •  Wygotski, L.: Geschichte der höheren psychischen Funktionen. Münster und Hamburg: LIT 1992
  • Mead, G. H.: Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969.
  • Bachtin, M.: The dialogic imagination. Four essays. Austin/USA: University of Texas Press 1981