Wie ist die Atmosphäre in einer Humanistischen Psychotherapie?

Psychotherapeuten, die sich der Humanistischen Orientierung zurechnen, bemühen sich um eine bestimmte Art der Beziehungsgestaltung zum Patienten, die eine spezifische Atmosphäre zwischen Therapeut und Patient erzeugt, das Humanistische “Ambiente”. Eine Humanistische Atmosphäre ist durchaus auch bei Angehörigen anderer Therapieschulen anzutreffen, vor allem wenn sie von Humanistischen Grundgedanken beeinflusst sind.

Das therapeutische Ambiente wirkt viel grundlegender und nachhaltiger als die Anwendung spezifischer therapeutischer Techniken (und in der Humanistischen Psychotherapie wird mit vielen, hocheffektiven Techniken gearbeitet). Wir können davon ausgehen, dass ein wohltuendes, heilungsförderndes, warmherzig annehmendes und zugleich professionell gut abgegrenztes Klima in den Therapiesitzungen bereits allein eine erhebliche positive Wirkung auf den Zustand und den Fortschritt des Patienten hat. Wenn dagegen eine noch so perfekte psychotherapeutische Transformationstechnologie angewandt wird, aber das therapeutische Ambiente nicht stimmt, dann wird sich der Patient in der Therapie nicht aufgehoben fühlen, und relevante Heilungs-und Wachstumsprozesse können nicht stattfinden.

Es ist für den Heilungs- und Wachstumsprozess des Patienten bspw. überaus relevant, ob er sich vom Therapeuten als Person auf freundliche, liebevoll zugewandte und zugleich professionell gut abgegrenzte Weise als Person wahrgenommen, angenommen und willkommen geheißen fühlt und spürt, dass sich der Therapeut interessiert und persönlich Anteil nehmen mit ihm aktiv auseinandersetzt, oder ob er sich auf eine kühle, gleichgültige, technische Weise wie ein Werkstück als Objekt therapeutischer Standardmethoden abgefertigt oder durch bloßes passives Begleiten in seinem Wunsch nach existenzieller Veränderung allein gelassen fühlt.

Das therapeutische Ambiente entspringt unmittelbar dem Menschenbild des Therapeuten. Es ist weniger etwas, was der Therapeut “tut”, sondern entscheidend davon geprägt, wer der Therapeut als Person “ist”. Hier gehen grundlegende Charaktereigenschaften, Lebenseinstellungen und Lebenserfahrungen des Therapeuten viel mehr ein als theoretisches Wissen und technisches Training. Die Lebenseinstellungen und das Menschenbild des Therapeuten sind davon geprägt, wie er sich selbst mit eigenen Lebensherausforderungen auseinandergesetzt und eigene Lebenskrisen in therapeutischer Selbsterfahrung verarbeitet hat. Die spezifischen therapeutischen Techniken, die der Therapeut anwendet, sind dagegen etwas, was der Therapeut “tut” – es handelt sich um konkrete Handlungsweisen, die aus verfahrensspezifischen Theorien entspringen.

Aspekte des Humanistischen Ambiente

  • Raum haben. Es kann für einen Patienten eine im Vergleich zu seinen sonstigen sozialen Kontakten und zu seiner Lebensgeschichte vollkommen neue Erfahrung sein, in einer Humanistischen Psychotherapie “Raum” zu haben. Damit ist nicht der äußere Therapieraum gemeint, sondern eine Beziehung zum Psychotherapeuten, in der der Patient die Möglichkeit hat, sich in den Sitzungen selbst auch in seinen empfindsamen, tabuisierten, angstvoll vermiedenen oder schamhaft verborgenen Anteilen zu erleben, zu erkunden und auszudrücken. Das kann einen heilsamen Kontrast zu Erfahrungen von Eingeengtsein, von Anpassungsdruck, autoritären Zwängen oder moralischen Tabuisierungen bedeuten, die bei manchen Patienten eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung ihres psychischen Leids spielen.
  • Liebevolle Wertschätzung. Es kann für einen Patienten, der in seinem Leben Missachtung und Gleichgültigkeit erlebt hat, heilsam sein, wenn er sich vom Therapeuten als Person auf liebevolle Weise angenommen und in ihrem Wesen wertgeschätzt fühlt. Dabei geht es nicht um Attraktion oder Begehren, sondern um das, was im Buddhismus als “Mitgefühl” und in der christlichen Tradition als “Nächstenliebe” bezeichnet wird: um  uneigennützige, warmherzige, wohlwollende, ehrlich interessierte und emotional Anteil nehmende Zugewandtheit dem Patienten als Menschen gegenüber. Das schließt die kritische Auseinandersetzung mit leidvollen Mustern und Verhaltensweisen des Patienten keineswegs aus, sondern vielmehr ein.
  • Experimentieren. Für einen Patienten, die sich festgefahren oder eingeengt fühlt in jahre- oder jahrzehntelang eingeschliffenen Gewohnheiten, kann es eine befreiende und vitalisierende Erfahrung sein, in der Therapie eingeladen zu werden, durch Experimente, Übungen oder Rituale Erfahrungen jenseits seines bisherigen Erlebnishorizontes zu machen, und dabei bisher unerkannte oder ungelebte Anteile oder Schichten seines Selbst zu erfahren.
  • Wohlwollende Auseinandersetzung. Für einen Patienten, der in seinem Leben leidvolle Erfahrungen mit fruchtlosen Streit oder abtötender Konfliktvermeidung gemacht hat, kann es eine heilsame Erfahrung sein, in der Therapie Formen wohlwollender Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen Menschen zu erleben, die auf der Basis von tiefem gegenseitigen Respekt zur Konfliktlösung durch Tiefenerleben führen können.
  • Empathisches Verstehen. Für einen Patienten, dessen alltägliche soziale Beziehungen überwiegend aus oberflächlichen Smalltalk bestehen, oder der die Erfahrung gemacht hat, dass er von nahen Bezugspersonen mit deren Emotionen überflutet wurde, sobald er versucht hat, sich ihnen zu öffnen, kann es heilsam sein, wenn der Therapeut sich auf empathische Weise in sie einzufühlt und sich bemüht, sie zu verstehen, d.h. mit ihnen fühlt, ohne in ihr Leid hineingezogen zu werden, also auf ihre Befindlichkeit emotional antwortet, ohne sie zu bewerten oder den Patienten zu mit Eigenem zuzuschütten.
  • Tiefenselbsterkundung. Für einen Patienten der “im Kopf” ist, viel “über” sich redet und nachdenkt, aber emotional wenig mit sich selbst in Kontakt ist, kann es heilsam sein, in der Therapie zu fortschreitender Selbsterkundung eingeladen zu werden, um sich auch mit den untergründigen Schichten seines Gewahrseins zu verbinden, die sich erst allmählich und nach Durchdringung ängstlicher Vermeidungen öffnen.
  • Akzeptierendes Haltgeben. Für einen Patienten, der sich in seinem Leben in existenziellen Notlagen alleingelassen fühlte, der also “im Regen stehengelassen” wurde, kann es heilsam sein, beim Therapeuten einen zuverlässigen persönlichen Halt zu finden. Dabei geht es nicht nur um die formelle Regelmäßigkeit der Sitzungen, sondern vor allem um ein Gefühl des Angenommenseins, auch und gerade mit den Anteilen, die der Patient bei sich selbst schwer akzeptieren kann. (Annehmen bedeutet dabei nicht Zustimmen oder Rechtgeben. Bspw. kann der Therapeut mörderische Hassgefühle oder selbstzerfleischende Schuldzuweisungen des Patienten als Gefühle annehmen, ohne sie als faktisch gerechtfertigt zu behandeln oder ihnen zuzustimmen.)
  • Potentialaktivierung. Für einen Patienten, der dazu neigt, sich selbst als unfähig, mangelhaft oder “falsch” zu betrachten, kann es eine heilsame Erfahrung sein, wenn er spürt, dass der Therapeut seine Potentiale (Ressourcen, Fähigkeiten, Kraftquellen) wahrnimmt, wertschätzt und ihre Entwicklung und Anwendung im Alltag fördert.
  • Herausforderung. Für einen Patienten, der in seinem Leben mit Gleichgültigkeit ignoriert oder in distanzierende Watte gepackt wurde, kann es eine heilsame Erfahrung sein, wenn er spürt, dass sich der Therapeut intensiv und persönlich interessiert mit ihm auseinandersetzt und aufrichtig zu seinem Innenleben vordringen will, was sich der Patient vielleicht sehnlich wünscht, obwohl er es nach außen hin ängstlich vermeidet oder abstreitet.
  • Intensive Emotionen aushalten. Für einen Patienten, der in seinem Leben die Erfahrung gemacht hat, dass er selbst oder seine nahen Bezugspersonen mit intensiven Emotionen (bspw. mit Trauer, Angst, Wut oder Gier) nicht angemessen umgehen können, kann es eine heilsame Erfahrung sein, wenn er spürt, dass der Therapeut intensive Gefühle aushalten kann, also von ihnen zwar berührt aber nicht verunsichert wird (v.a. weil er sie aus seiner eigenen Selbsterfahrung kennt). Dadurch kann der Patient allmählich seine Ängste vor seinen Leidenschaften verlieren und beginnen, die darin enthaltene Vitalität konstruktiv zu integrieren.
  • Behutsamkeit. Für einen Patienten, der in seinem Leben Grenzüberschreitungen (Gewalt, Grobheit, Rücksichtslosigkeit, Überwältigung) erlebt hat, kann es heilsam sein, wenn er spürt, dass der Therapeut seine Verletztheit und Zerbrechlichkeit wahrnimmt, damit sorgsam umgeht, ihn also rücksichtsvoll und feinfühlig behandelt, ihn beschützt und ihn in seinem konstruktiven Selbstschutz unterstützt.
  • Professioneller Dialog. Humanistische Psychotherapie ist ein fortgesetzter professioneller Dialog zwischen Therapeut und Patient, der sich in einer Dialektik zwischen empathischer Tiefenakzeptanz und reflektierender, transformativer Auseinandersetzung bewegt. Inhalte des Dialogs sind die leidvollen Muster des Patienten; sein Ziel ist der Wachstumsprozess des Patienten. Dabei ist der Therapeut als reale Person präsent und spürbar, auch in seinen Schwächen und Grenzen, ohne aber sich selbst zum Thema in der Therapie zu machen.
  • Kooperation. Im Humanistischen Verständnis ist der therapeutische Prozess kein festgelegtes Programm, das der Patient pflichtgemäß absolvieren müsste oder könnte, sondern ein Erfahrungsweg, der vom Therapeuten und dem Patienten gemeinsam kooperativ entwickelt und reflektierend weiterentwickelt wird.
  • Erlebnisaktivierung. Mit therapeutischen Übungen oder Experimenten kann der Therapeut den Patienten dazu einladen, vom Denken zum Fühlen, aus dem Kopf in den Körper, vom Intellektualisieren zum Gewahrsein und vom Darüber-Reden zum unmittelbaren Erleben zu kommen, was den therapeutischen Prozess intensiviert und beschleunigt. Das kann bspw. geschehen in Form von Rollenspielen, in denen Beziehungsvertrickungen erkundet oder konstruktive Formen von Auseinandersetzung eingeübt werden, von Körperübungen, die energetisch aktivieren und das Gewahrsein fördern oder von Versenkung in Trance zur Kontaktaufnahme mit dem Unbewussten.

Werner Eberwein