Was ist Achtsamkeit am Rande des Gewahrseins?

Die Achtsamkeit und das Gewahrsein des Psychotherapeuten und des Patienten richten sich nicht nur auf die offensichtlichen kognitiven Inhalte, die im Gespräch geäußert werden, und auch nicht nur auf das, was beide an nonverbalen Äußerungen beim anderen und bei sich selbst oder in sich an Gefühlsregungen, Impulsen und Fantasien unmittelbar wahrnehmen, sondern auch auf Erlebnisebenen am Rande des Gewahrseins, die zunächst nur vage wahrnehmbar, aber noch nicht konzeptuell, symbolisch oder begrifflich gefasst werden können (Gendlin 2012, Gendlin & Wiltschko 2007, Weiser-Cornell 2013).

Solche Grenzwahrnehmungen ermöglichen einen intuitiven Zugang zu subtilen oder unbewusst wirkenden Dynamiken, die das psychische Leid des Patienten aufrechterhalten oder die zu dessen Überwindung beitragen können.

Beispiel 1: Eine Patientin betritt vor dem Therapeuten den Therapieraum und nimmt Platz. Als der Therapeut etwas später hereinkommt, spürt er eine Irritation, die er zunächst nicht zuordnen kann. Nach einer Reihe von Wiederholungen dieser Situation bemerkt er, dass die Patientin, sobald er den Raum betritt, jedes Mal auf leicht verschämte Weise heimlich gähnt.

Beispiel 2: Ein Patient erzählt von einem Ereignis, von dem der Therapeut erwarten würde, dass es den Patienten sehr traurig macht, während dieser relativ ungerührt wirkt. Plötzlich verspürt der Therapeut ein Kitzeln in der Kehle, so dass er sich räuspern muss. Nach einer Reihe von Wiederholungen ähnlicher Situationen ahnt der Therapeut ein Zusammenhang zwischen seiner Körperreaktion und dem Unterdrücken von Traurigkeit beim Patienten, die diesem möglicherweise „in der Kehle steckenbleibt“.

Grenzwahrnehmungen dieser Art müssen im therapeutischen Prozess dialogisch validiert werden, damit der Therapeut nicht eigene Dynamiken oder Projektionen dem Patienten überstülpt. Das ist mitunter nicht einfach, weil dabei möglicherweise Anteile berührt sind, die dem Patienten unangenehm sind, für die er sich schämt, die er vermeidet, verleugnet, oder denen er sich nicht bewusst ist.

Wenn es sich um Äußerungen von relevanten Interaktionsmustern handelt, wiederholen sich ähnliche Situationen immer wieder. Sie können dann auf verschiedene Weise in der Therapie zum Thema gemacht werden, so dass Patient und Therapeut gemeinsam untersuchen können, worauf bzw. auf wen es sich bezieht und welche Bedeutung es hat. Durch das Thematisieren subtil erspürter Muster kann der Therapeut den Patienten zur Selbsterkundung einladen auch in Bereichen, die diesem zunächst kaum oder gar nicht bewusst sind, oder die er aus Selbstschutz bisher vermeiden musste.

Werner Eberwein