Was ist achtsames Essen?

Patrizia ist eine 36 jährige Bauzeichnerin. Mit Anfang 20 litt sie unter Bulimarexie, d.h. sie neigte zur Magersucht und gleichzeitig zu Ess-Brecht-Sucht. Sie hatte ihr Essverhalten nicht im Griff, aß über längere Zeit gar nichts oder sehr wenig, magerte drastisch ab und aß dann wieder um übermäßig viel, nahm kräftig zu und erbrach sich nach dem Essen, um wieder herauszubringen, was sie in sich hineingestopft hatte.

Häufig leiden Mädchen und junge Frauen unter dieser Problematik, die sich in vielen Fällen in den folgenden Jahren von selbst wieder einreguliert. Patrizia isst jetzt mit 36 Jahren angemessen, nicht zu viel und nicht zu wenig, aber als Überhang aus ihrer bulimarektischen Zeit ist Essen für sie auch heute noch ein Problem. Wenn sie alleine ist, befürchtet sie, das Essen unkontrolliert in sich hineinzuschlingen. Daher isst sie wenn immer möglich zusammen mit anderen Menschen, was bei ihr ganz gut geht, weil sie mit zwei anderen Frauen zusammen in einer Wohngemeinschaft lebt.

Patrizia hat viel Erfahrung mit verschiedenen Formen der Meditation und mit Achtsamkeitsübungen. Sie praktiziert regelmäßig Yoga und geht häufig zu Meditations-Retreats. Diese Retreats finden zum Beispiel in Zen-Klöstern oder in Therapiezentren statt. Dort fällt es mir leicht, auf achtsame Weise zu essen, aber wenn sie dann wieder zuhause ist, vor allem wenn sie alleine ist, gerät ihr Essverhalten leicht außer Kontrolle, so dass sie sich sehr bemüht muss, sich beim Essen zu kontrollieren. Man könnte sagen, sie überkontrolliert sich aus Angst vor Kontrollverlust.

Ich beschäftige mich selbst gerade mit dem Thema »achtsames Essen«. Auch ich esse oft nur beiläufig, unterhalte mich beim Essen, bringe mir beispielsweise zu Mittag etwas zu Essen in die Praxis mit und esse nebenbei, während ich meine Aufzeichnungen von den Therapiesitzungen schreibe, E-Mails lese oder die neuesten Nachrichten im Internet anschauen. Zeitweise ernähre ich mich ziemlich gesund, dann wieder esse ich Halbfertigprodukte und Ungesundes. Achtsam es Essen würde mir auch guttun.

Ich sage zu Patrizia: »Wie wäre es, wenn wir heute mal achtsam es Essen üben. Das würde mir auch guttun.« Wir wissen beide, wie das geht, wir haben es schon oft geübt, trotzdem praktizieren wir es nicht in unserem Alltag. Sie verstrickt sich dadurch in Kontrollzwänge und Schling-Attacken, ich esse oft beiläufig, daher viel Ungesundes und oft insgesamt zu viel.

Aus unserer kleinen Teeküche in der Praxis hole ich zwei kleine Schalen, packe in jede eine Feige, zwei Paranüsse und eine einen getrockneten Apfelring. Eine Schale gebe ich Patrizia, eine zweite nehme ich selbst.

Ich weiß nicht, wie es Patrizia in diesem Moment geht, aber ich fühle mich mit ihr in diesem Moment ziemlich auf Augenhöhe. Wir beschäftigen uns beide durch eine Übung, die wir beide gut kennen, mit einem Problem, das wir, wenn auch auf unterschiedliche Weise, beide haben. Ich bin zwar quasi der Moderator der Sitzung, aber gleichzeitig auch selbst an dem Prozess beteiligt und in einem eigenen Prozess der Selbstauseinandersetzung.

Ich frage Patrizia: »Wenn du achtsam es Essen übst, wie fängst du dann eigentlich an?« Sie antwortet: »Ich schaue mir das Essen an mit einem Gefühl der Dankbarkeit.« Wir setzen uns also beide gemütlich hin, nehmen die Schale mit dem Essen in unsere Hände (Patrizia sagt: »… am besten in beide Hände«) und stellen uns innerlich ein auf einer Haltung der Dankbarkeit für das, was vor uns in unseren Schalen liegt.

Ich schaue die Feige an, und nach einer Weile wird mir bewusst, wie viel Arbeit in so einer Feige steckt. Mir wird ihre Geschichte bewusst. Da war irgendwo in der Türkei ein Baum, an dem sie gewachsen ist, jemand hat sie gepflückt, ganz vorsichtig, um sie nicht zu zerdrücken, dann getrocknet, verpackt, verschickt und verkauft. Patrizia beschäftigt sich unterdessen mit der Gestalt der Feige. Sie sagt: »Sie sieht aus, als ob sie lächelt.« »Stimmt« sage ich, »das ist mir vorher gar nicht aufgefallen«. So beschäftigen wir uns gemeinsam eine Weile mit den Früchten und Nüssen in unseren Schalen, schauen sie an, werden uns ihrer Herkunft bewusst, betasten und beschnuppern sie.

Irgendwann sage ich: »Womit wollen wir anfangen?« Patrizia sagt: »Ich schaue die ganze Zeit die Feige an.« Ich: »Die ganze Feige, oder nur ein Stück davon?« Sie: »Naja, vielleicht erstmal ein Viertel.«

Wir nehmen uns beide ungefähr ein Viertel von der Feige, schnuppern noch einmal kurz daran und stecken sie gleichzeitig in den Mund. Ich merke meine gewohnheitsmäßige Tendenz, während ich die Feige kaue, andere Dinge zu tun, auf mein Handy zu schauen, mich zu unterhalten, in einem Buch zu lesen oder Ähnliches. Patrizia meint, sie würde ihre Tendenz spüren, die Feige so schnell wie möglich hinunterzuschlingen, um schnellstmöglich satt zu werden. Uns beiden werden unsere gewohnheitsmäßigen Muster beim Essen bewusst.

Wir bemühen uns, geistig bei dem zu bleiben, was wir in diesem Moment unmittelbar wahrnehmen. Ich gehe mit meiner Aufmerksamkeit in meine Mundhöhle hinein, spüre meine Kaubbewegungen, höre das leise Knirschen der Kerne der Feige zwischen meinen Zähnen, spüre wie sich meine Zunge in dem süßen, leicht klebrigen Feige-Speichel-Gemisch bewegt,. Plötzlich wird mir eine ungeheure Vielfalt unterschiedlicher Geschmacks-Nuancen bewusst. Es ist fast wie bei einem Weinkenner: Ich schmeckte nicht einfach nur Feige, ich schmeckte ganz viele parallele Geschmäcker gleichzeitig und nacheinander. Wenn ich jetzt gleichzeitig meine E-Mails gelesen hätte, wäre mir das überhaupt nicht aufgefallen. Es ist fast so, als ob ich Tiefendimensionen der Geschmackswahrnehmung erlebe, über die ich normalerweise hinweggeschmeckt hätte. In diesem Moment sagt Patrizia: »Es ist erstaunlich, was man da so alles schmeckt.«

Er wird mir bewusst, welche ungeheure Mühe darin steckt, gute Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen und wie sehr ich (zeitweise) bemüht bin, mir hochwertige Nahrungsmittel zu besorgen, die ich dann aber höchst unachtsam und beiläufig quasi an meinen Geschmacksnerven vorbeischleuse. Es wird mir ganz klar, dass dieses unachtsame, beiläufige Essen die Ursache des Überessens und der Fehlernährung ist mit all den gesundheitlichen Folgen, die daraus entstehen.

Patrizia und ich nehmen uns zusammen noch eine Weile Zeit um schweigend ein zweites Viertel der Feige zu essen, was wiederum eine erstaunlich intensive sinnliche Erfahrung im Mund ist, die ich kaum angemessen in Worte fassen kann. Was sonst noch in Patrizias Schale ist schenke ich ihr mit der Anregung, damit achtsames Essen zu üben.

Meine eigene Schale nehme ich mit in mein Büro, schaue auf meinen Computerbildschirm, lese die neuesten Nachrichten und esse nebenbei die beiden Paranüsse, die halbe Feige und den Apfelring …

Werner Eberwein