Was heißt „intuitives Erfassen von Interaktionsmustern“?

Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die ein humanistischer Psychotherapeut entwickelt haben muss (neben der Fähigkeit zur Empathie und zur Selbst-Zurücknahme) ist die Fähigkeit, Beziehungsmuster zu erfassen. Mustererkennung geht über psychopathologische Diagnostik hinaus. Beziehungsmuster sind vielfältig und vielgestaltig, manche tauchen nur passager oder situationsspezifisch auf, sie können durch standardisierte Tests oder Fragebögen in ihrer Komplexität nicht erfasst werden.

Das Erleben eines Menschen und seine Beziehungsmuster sind voller Ambivalenzen und Paradoxien, schillernd, in Ebenen geschichtet, teilweise nur metaphorisch oder lyrisch erfassbar, in ständiger Veränderung begriffen, gefühls- und kontextabhängig, einem surrealistischen Multi-Ebenen-Film ähnlicher als einer präzisen, statischen Konstruktionszeichnung.

Der Mensch kann durch rational-logisches Begreifen allein nicht angemessen erfasst werden. Dies trifft ganz besonders auf die Anteile zu, bei denen der Patient Schwierigkeiten mit sich selbst hat. Emotionale Ambivalenzen, kindlich-magisches Denken, mustergetriebene Befürchtungen und Projektionen, irrationale Schamgefühle oder triebhafte Bedürfnisse sind nicht rational, sondern nur „psycho-logisch“ zu verstehen.

Der Zugang zu solchen irrationalen oder nicht vollständig rationalen Anteilen der Psyche wird in der humanistischen Psychotherapie zunächst auf intuitiven Wege gesucht, also durch eine Erkenntnisweise, in der der Therapeut auch in Verbindung steht mit eigenen, inneren Erfahrungen am Rande seines Gewahrseins, durch die er zunächst mehr ahnt als weiß. Bei einem gut ausgebildeten Psychotherapeuten mit viel und intensiver Eigentherapie handelt es sich um eine geschulte Intuition, die weit über bloßes Drauflos-Vermuten oder schematisches Diagnostizieren hinausgeht. Der Therapeut spürt oder ahnt zunächst „etwas“. Ihm fällt etwas auf, das er zunächst nicht recht benennen kann. Er spürt eine Irritation, ein vages Hängenbleiben seiner Aufmerksamkeit. Er entdeckt subtile Signale, die er zunächst nicht oder nicht präzise zuordnen kann.

Dann fokussiert der Therapeut seine eigene Aufmerksamkeit auf diese Aspekte und lenkt die Aufmerksamkeit des Patienten darauf. Subtile Äußerungen von Interaktionsmustern können z.B. durch spontane Handlungsimpulse oder in metaphorisch-symbolischer Form erfasst werden:

  • Während Sie sprechen, erscheint es mir so, als ob der Abstand zwischen uns gerade größer geworden sei, wie empfinden Sie das?“
  • „Als Sie … gesagt haben, haben Sie eine Geste mit der rechten Hand gemacht, also ob Sie etwas wegwischen wollten …“
  • „Eben ist eine Falte zwischen Ihren Augenbrauen erschienen …“
  • „Ich merke, dass ich Sie am liebsten trösten würde, aber nicht weiß wie …“
  • „Mir kommt gerade das Bild, als ob Sie sich fühlen wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, macht das Sinn für Sie?“

Im Abgleich mit den Empfindungen, Ahnungen und Bedeutungszuschreibungen des Patienten entsteht auf dialogische Weise allmählich ein fortschreitendes Verstehen, ein Ein- und Zuordnen dieser zunächst intuitiv erfassten Erfahrungen zu Mustern der Beziehungsgestaltung und der Erlebensorganisation und schließlich ein verbal-diskursives, symbolisierbares Begreifen.

In der humanistischen Psychotherapie geht es primär um, wiederkehrende Muster der Kontakt-und Beziehungsgestaltung, des Ausdrucks, der Kommunikation und des Selbstbildes, die mit den zu bearbeitenden Problemen des Patienten in Beziehung stehen. Es gibt vielerlei Muster der Beziehungsgestaltung, die meisten von ihnen sind angemessen oder unproblematisch. Manche dieser Muster jedoch (und die werden in der humanistischen Psychotherapie herausgearbeitet und bearbeitet) tragen zur Aufrechterhaltung des Problems bei.

Ein humanistischer Psychotherapeut muss in der Lage sein, Problem-aufrechterhaltende Muster zu identifizieren, auch solche, die dem Patienten noch nicht bewusst sind, oder über deren Wirkungen er sich nicht bewusst ist, und diese auf möglichst präzise Weise zu benennen und, auch in ihren Auswirkungen, dem Patienten zu beschreiben.

Beispiel: Eine Patientin arbeitet seit 3 Jahren in einem Startup-Unternehmen. Obwohl sie die einzige Mitarbeiterin mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium ist, ist sie nur als Assistentin tätig. Im Kontakt mit ihren Kollegen fühlt sie sich sehr unsicher.

Im Gespräch mit ihr bemerkt der Therapeut, dass sie konsequent vermeidet, eigene Standpunkte zu definieren und intensiv versucht, zu erfassen, wie der Therapeut sie sieht und welche Reaktionen er von ihr erwartet, um sich seinen Sichtweisen und Wünschen an sie anzupassen.

Der Therapeut sagt: „Könnte es sein, dass du gerade versuchst, zu erfassen, wie ich dich gerne haben möchte, und dich dann bemühst, so zu sein?“ Sie antwortet: „Naja, ich war schon immer das süße kleine Dummchen, das alle mochten,das aber niemand ernst genommen hat.“ Der Therapeut sagt: „Ich könnte mir vorstellen, dass du dadurch zwar einen Schutzraum herstellst, in dem du wenig konfrontiert wirst, aber um den Preis, dass du tatsächlich hilflos und unsicher bist und bleiben musst. Wie siehst du das?“

Das vorschlagende Beschreiben eines Beziehungsmusters, das der Patientin nicht oder nicht vollständig bewusst ist (ihre Tendenz, in „vorauseilendem Gehorsam“ die vermeintlichen Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen) kann der Patientin helfen, ihre aktuellen Probleme (ihre Unsicherheit im Kontakt mit Kollegen) besser zu verstehen und perspektivisch besser zu bewältigen.

Werner Eberwein