Was heißt „Begegnung“ in der Psychotherapie?

Im dritten Band seines 1993 erschienenen Buchs „Integrative Therapie“ hat Hilarion Petzold, der Begründer der Integrativen Therapie, einen Vortrag aus dem Jahre 1988 veröffentlicht, in dem er seine Erfahrungen in der Arbeit mit schwer- und todkranken Patienten reflektiert (die erweiterte 2. Auflage erschien 2003). Er untersucht darin verschiedene Aspekte des Begriffes und Prozesses der Begegnung in seiner psychologischen und philosophischen Einbettung.

„Die Begegnungsfähigkeit (wird) als anthropologisches Grundfaktum angenommen … Der Mensch wird Mensch aus der Begegnung. Begegnung kennzeichnet … das Wesen des Menschen.“ (Petzold 2003, S. 784).

Besonders die Schriften „Ich und Du“ (Martin Buber, 1923) und „Einladung zu einer Begegnung“ (Jakob Moreno, 1914) werden in der Humanistischen Psychotherapie als Basiskonzepte einer begegnungsorientierten Gestaltung der Patient-Therapeut-Beziehung betrachtet. Sie sind vor dem historischen Hintergrund des Ersten Weltkrieges mit seiner bis dahin unbekannten Zerstörungspotenz zu sehen in der Absicht, die Idee des Dialogs als Gegenmodell zur gegenseitigen Vernichtung zu entwickeln.

Begegnung zwischen Menschen setzt Freiheit und Gleichheit, Würde und Wertschätzung voraus. In sozialen Verhältnissen, die von Machtstrukturen beherrscht oder dominiert werden, hat die zwischenmenschliche Begegnung wenig Raum. Auch die Bindung zwischen Menschen erscheint in der Unfreiheit als repressive Fessel, nicht aber als frei gewähltes Beieinanderbleiben.

In der Psychoanalyse wurde das Begegnungskonzept insbesondere von Sandor Ferenczi in Form der „mutuellen (gegenseitigen) Analyse“ eingeführt, indem er sich mit seinem Patienten auf die gleiche Ebene begab und seine Deutungsmacht aufgab – ein Ansatz, der heute v.a. in den relationalen bzw. interaktionellen Strömungen der Psychoanalyse fortgeführt wird. In der klassischen Psychoanalyse von Freud bis Kernberg wird dagegen weiterhin eine medizinalisierte „Objektsprache“ gesprochen („Objektbeziehungen“, „Objektkonstanz“ usw.), die als späte Folge der Empfehlung von Freud gesehen werden kann, sich bei der analytischen Behandlung einen Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der sich in eine distanzierte, emotionslose Haltung der Gefühlskälte dem Patienten gegenüber zu begeben habe.

„Die analytische Situation wurde auf die Übertragung und das Arbeitsbündnis begrenzt – und das ist sicher zu wenig, denn zwischen Menschen geschieht mehr, auch und gerade im therapeutischen Kontext.“ (ebd. S. 789)

Psychotherapeutische Situationen, so Petzold, sind niemals frei von Machtstrukturen, auch wenn man darüber nicht gerne spricht. Sie gründen schon in der „normativen Kraft des Settings“, also in der Rollenverteilung und der äußeren Gestaltung der Therapiesituation (Praxis/Klinik, Honorarverträge, Terminvereinbarungen usw.). Der Patient befindet sich in Not und trifft auf einen Therapeuten als „Heilungsexperten“ mit dem entsprechenden beruflichen Status. Es kann und muss gefragt werden, ob bzw. inwieweit in dieser Funktionszuschreibung, diesem Statusgefälle und unter dieser Rollenfixierung eine Begegnung im Sinne von Intersubjektivität und zwischenmenschlicher Beziehung in der Psychotherapie überhaupt möglich ist, insbesondere weil sich das Gegenüber des Therapeuten ja selbst in der Regel (zumindest zu Beginn) als Patient, also als Leidender, Hilfebedürftiger sieht, auch wenn der Therapeut keinen weißen Kittel anhat und sein Gegenüber als „Klient“ bezeichnet (wie in den Anfangsjahren der Humanistischen Psychotherapie üblich).

Der Wille und die Bereitschaft des Therapeuten, den Patienten als Subjekt auf Augenhöhe zu betrachten und zu behandeln ist zentral wichtig und muss ständig entwickelt und geprüft werden, aber er ist nicht ausreichend, denn auch der Patient muss die Bereitschaft, den Willen und insbesondere die Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Begegnung mitbringen, um die Therapie als intersubjektiven Prozess fruchtbar werden zu lassen, was insbesondere bei strukturellen Störungen und am Anfang der Therapie nicht oder kaum gegeben sein dürfte. Viele Patienten haben Schädigungen ihrer Begegnungsfähigkeit (auch durch evtl. wohlmeinende „Helferpersonen“) erlebt und neigen daher dazu, sich selbst zu verdinglichen, weil sie immer wieder wie eine Sache behandelt wurden.

Die Entwicklung der Begegnungsfähigkeiten

Nach Petzold beginnt das Leben des Fötus im Mutterleib in einem Zustand der Konfluenz, also der Unabgegrenztheit, Ununterschiedenheit, des Verschmolzenseins zwischen Ich und Welt. Die Folgen dieses frühen Zustandes können im Leben des Erwachsenen entweder positiv als ozeanisches Gefühl, Innigkeit, Verschmelzung in der Liebe usw. oder in pathologischer Form in Form emotionale Überflutungen, psychotischer Desintegration oder kollusiver Paarbindungen erlebt werden.

Bereits in der letzten Phase der Schwangerschaft, im Prozess der Geburt und unmittelbar danach entsteht, so Petzold, die Fähigkeit, das eigene vom Fremden zu unterscheiden also innen und außen sowie verschiedene Aspekte des Außen zu differenzieren, was die Grundlage für Kontakt und Identität darstellt. Durch Berührungen, Töne und Blicke entsteht eine Urform des Dialogischen.

Begegnungsfähigkeit im engeren Sinn beginnt im zweiten Lebensjahr mit der Fähigkeit des Kindes, sich selbst und andere Personen als Subjekt wahrzunehmen, zu erkennen und zu erfassen und auch wahrzunehmen, dass die eigene Subjektivität auch von der anderen Person erfasst werden kann.

„So entsteht Intersubjektivität aus Wechselseitigkeit (mutualité) der Empathie.“ (ebd. S. 795)

Begegnung ist wechselseitiges empathisches Erfassen, körperlicher und seelischer Austausch, in dem sich Intersubjektivität realisiert.

Wenn Begegnung in Dauer und Zuverlässigkeit erfahren wird, entsteht Beziehung. In einer Beziehung kann man sich z.B. zeitweise auch aus Kontakt und Begegnung zurückziehen, ohne dass es zu einem Abbruch der Beziehung kommt.

Wenn Beziehung auf Langzeitperspektive hin angelegt ist, sprechen wir von Bindung. Bindung kann bestehen durch Gemeinsamkeiten der Geschichte oder der Bezüge, etwa in einer Familie oder in einer sozialen Gemeinschaft, aber auch aktiv hergestellt werden durch die wahlfreie Entscheidung, die eigene Freiheit langfristig zu Gunsten einer frei gewählten Gebundenheit einzuschränken und eine bestehende Beziehung durch Sich-Einlassen, Hingabe und auch (mehr oder weniger große) Leidensbereitschaft auf die Perspektive einer potentiellen Unverbrüchlichkeit hin auszurichten.

„Zur Bindung muss man reif werden. Sie erfordert Beziehungserfahrungen und … Beziehungsarbeit“ (S. 797).

Pathologische Entgleisungen von Bindungsprozessen dagegen können sich zu maligner Abhängigkeit und Hörigkeit entwickeln.

„Subjektivität kann sich nicht ausbilden wenn wir auf der Ebene der naturwüchsigen, primären Konfluenz fixiert bleiben oder auf die Ebene des Kontaktes festgeschrieben sind. Sie erfordert Begegnung und mehr als das, denn Begegnungen sind kurzfristig, oft unverbindlich. Subjekt kann man nur in Beziehungen werden, die eine intersubjektive Qualität haben.“ (ebd.)

Natürlich kann professionelle Psychotherapie nicht in vollständiger Mutualität (Gegenseitigkeit) durchgeführt werden, sondern nur in Form einer selektiven, also dosierten Offenheit und eines partiellen mitmenschlichen Engagements. Begegnungsorientierte Psychotheapie kann jedoch auch nicht in Form einer technokratischen Kurzzeittherapie zum alleinigen Zweck der schnellstmöglichen Beseitigung von Oberflächensymptomen realisiert werden mit Menschen, deren Fähigkeit zur Intersubjektivität sich unter Umständen nie entwickeln konnte oder über Jahrzehnte hinweg geschädigt wurde.

Störungen der Relationalität und der Begegnungsfähigkeit sind im psychotherapeutischen Bereich nicht nur an der Tagesordnung, sie sind vielmehr der Kern des zu behandelnden Problems (wie auch immer die konkreten Probleme im Einzelnen aussehen mögen).

Viele Psychotherapiepatienten sind kaum noch oder nicht mehr begegnungsfähig, oder sie waren das nie. Durch Mangel an Halt gebenden und akzeptierenden Beziehungs- und Bindungsangeboten im Lauf der Biografie, durch Invasionen oder Überflutungen mit den Wünschen oder Gefühlen ihrer primären Bezugspersonen, durch Erfahrungen von Gewalt, Enttäuschung oder Zurückweisung konnten sie nie Beziehungsstrukturen auf der Ebene von intersubjektiver Begegnung entwickeln, oder ihre Beziehungsmuster sind labil oder verzerrt. Sie fürchten und flüchten sich vor neuen Bindungen, oder sie klammern sich abhängig an, um nicht enttäuscht zu werden, was zu einer Verewigung der Enttäuschung und zu Verlorenheit durch Bindungslosigkeit führt. Bei manchen Patienten ist es unumgänglich, dass der Therapeut seine eigene Unfähigkeit und/oder die Unfähigkeit des Patienten zur Herstellung partnerschaftlicher Mitmenschlichkeit im psychotherapeutischen Prozess zu akzeptieren, wenn er erkennt, dass er über sein aktuelles Bemühen hinaus keine Kraft mehr hat.

Ein humanistischer Therapeut geht auf den Patienten zu mit einer grundsätzlichen Haltung „unterstellter Intersubjektivität“ (ebd. S. 803). Das bedeutet, er versucht, den Patienten in seinem jeweiligen So-Sein als Person wertzuschätzen und ihm als Menschen auf der Ebene zu begegnen, die ihm möglich ist, und dabei stets im Blick zu behalten, wie dieser Mensch wohl gesehen, behandelt und angesprochen werden möchte.

Diese Art des Umgangs, auch mit (noch) nicht begegnungsfähigen Patienten ähnelt der Haltung von guten Eltern gegenüber Babies, die mit diesen so sprechen, als ob sie schon alles verstünden. Im Umgang mit dem Baby wird also etwas angesprochen (und dadurch im Laufe der Zeit aktiviert bzw. hergestellt) was zunächst noch nicht da sein kann. Aus einer zunächst nur virtuellen Unterstellung von etwas Möglichem erfolgen Wachstumsimpulse.

„Das Kind wird empathiert, ehe es sich empathieren kann.“ (ebd. S. 805)

Auch das innere Reden, die Auseinandersetzung mit sich selbst, das Nachdenken, der innere Monolog wurzelt im Dialog, er ist ein Niederschlag vollzogener Gespräche, die erst die Zwiesprache mit sich selbst ermöglichen.

Werner Eberwein