War das alte Tibet ein freies Land?

Viele Menschen stellen sich – inspiriert durch den Dalai Lama als Träger des Friedensnobelpreises – das „alte“ Tibet vor der chinesischen Invasion 1949 als ein Reich der Freiheit vor, in dem die Menschen sich, angeleitet von den Lamas (den buddhistischen Priestern) ihrer spirituellen Entwicklung widmeten, und das erst seit der Machtübernahme durch die Chinesen politisch unterdrückt wird. Das ist aber so nicht richtig. In seinem akribische recherchierten und durch zahllose Quellen hervorragend belegten Buch „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ stellt der Psychologe und Publizist Colin Goldner die unkritische Verehrung des alten tibetischem Buddhismus sowie der Person und Institution des Dalai Lama als „erleuchtetes Wesen“ auf den Prüfstand. Er weist nach, dass die Diktatur der chinesischen Partei- und Staatsbürokratie eine ebenso brutale geistige und weltliche Diktatur der Lamas abgelöst hat.

Colin Goldner, geb. 1953 in München, studierte Sozialpädagogik , Psychologie und Journalismus. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sekten, Psychokulte, Okkultismus, Alternativmedizin und Heilslehren aus aller Welt. Er wurde unter anderem durch sein kritisches Buch über Bert Hellinger und dessen Familienaufstellungen bekannt. Seit 1995 leitet er das Forum Kritische Psychologie e.V., eine gemeinnützige Informations- und Beratungsstelle für Therapie- und Psychokultgeschädigte bei München (www.fkpsych.de).

Diesen Standpunkt versteht Goldner keineswegs als Rechtfertigung der chinesischen Diktatur in Tibet, wie auch in China selbst und insbesondere der in den 60er Jahren im Zuge der sogenannten Kulturrevolution verübten Gewalt- und Zerstörungsakte, die so Goldner  durch nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen seien. Man wolle jedoch im Westen nicht gern zur Kenntnis nehmen, dass Tibet bereits unter der Herrschaft des Dalai Lama und seiner Vorgänger als Häupter des buddhistischen Klerus jahrhundertelang geistig unterjocht, ökonomisch ausgebeutet, entrechtetet und mit Gewalt und Korruption regiert worden sei.

Unter vielen der sicherlich wohlmeinenden und gutwilligen Sympathisanten „des tibetischen Volkes“ herrsche nach Goldner ein oft unrealistischen Bild vom „alten Tibet“ vor dem Einmarsch der Chinesen als „Paradies auf Erden“, als „mythisches Shangri-La“, in dem die Menschen friedlich, ungezwungen und glücklich zusammenlebten und tagein tagaus nachts nichts anderem als nach spirituellen Wachstum strebten. In Wirklichkeit habe es sich um eine feudale Herrschaft des buddhistischen Klerus gehandelt, dessen Allmacht aufgrund seines angeblichen spirituellen Allwissens nicht infrage gestellt werden durfte. Das Ergebnis sei eine theokratische Diktatur der Lamas gewesen, in der die buddhistischen Klöster die unanfechtbare Kontrolle über die umgebenden Bauern ausübten, die unter unsäglich verarmten und entrechteten Bedingungen in bitterster Armut lebten. Es herrschte Hunger, es gab keinerlei Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen. Es herrschte ein strenges Kastensystem einschließlich der völlig entrechteten Kaste der „Unberührbaren“. Der soziale Stand in der Gesellschaft wurde begründet und gerechtfertigt mit der buddhistischen Karmalehre, derzufolge das gegenwärtige Leben das Ergebnis von Verdiensten oder Verfehlungen in vergangenen Leben sei. Dagegen wurden in den Klöstern und insbesondere auf den höheren Ebenen der buddhistischen Geistlichkeit unsagbare Reichtümer angesammelt, die heutzutage am ehesten mit dem Reichtum arabischer oder russischer Ölmilliardär oder von Internetmogulen vergleichbar wären.

Die Klöster und der buddhistischen Klerus hatten eine despotische Macht nicht nur über die religiöse Praxis, sondern über die gesamte Lebensweise aller Bewohner Ihrer Region in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens (Goldner 2008, S. 16 ff). Zur Disziplinierung des Volkes bediente sich der Klerus eines Dämonen- und Höllenkultes, durch den die Tibeter in ständiger Angst vor den Höllenqualen in diesem und allen weiteren Leben gehalten wurden, die nur durch ruinöse Abgaben an die Priesterschaft abgewendet werden konnten. Hier einige Beispiele:

„Als schlimmste aller Sünden, die unmittelbar in die Hölle führe, gilt Verachtung oder gar Zorn gegenüber den Lamas“. Die karmische Folge von Zorn gegenüber dem „spirituellen Meister“ sei eine Wiedergeburt in der Hölle, von denen es 16 gebe, 8 „heiße Höllen“, deren Boden aus rotglühendem Eisen bestehe, in der man in riesigen, glühenden Eisenkesseln gebraten werde und 8 „kalte Höllen“, in denen ein eisiger Wind tausende von Frostbeulen entstehen ließe, aus denen Eiter herausplatze. Eine der Höllen bestehe aus einem „stinkenden Sumpf von Exkrementen“, in die man bis zum Hals versinke, während man „von den scharfen Schnäbeln der dort lebenden, riesigen Insekten bis aufs Mark zerfressen“ werde. In anderen Höllen werde man verbrannt, zerschlagen, zerquetscht, von Felsbrocken zermalmt oder mit riesigen Messern in tausend Stücke geschnitten, und das über Äonen hinweg immer wieder aufs Neue. Diese Vorstellungen werden keineswegs metaphorisch verstanden. Vielmehr erklärte selbst der Dalai Lama ausdrücklich, dass diese Höllen „wirklich existieren“ (ebenda, S. 42f).

„Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Polizei und Militär lagen ebenso in den Händen von Mönchsbeamten wie Bildungs- und Gesundheitswesen, Grundbesitz sowie jedwede sonstige Verwaltung. … Neben der ‚regulären‘ Besteuerung sowie regelmäßig zu vernichtender Fronarbeit wurden sie sonderbesteuert für jede Eheschließung, die Geburt jedes Kindes, den Tod jedes Familienangehörigen, für jeden gepflanzten Baum und jedes gehaltene Tier, für jedes religiöse Fest einschließlich gesonderter Abgaben für Singen, Tanzen, Trommeln und das Läuten von Gebetsglocken, für Arbeitsunfähigkeit, Zeiten im Gefängnis und jede Reise in ein anderes Dorf. Steuerschulden wurden von einer Generation zur nächsten vererbt. Zur Deckung wurden Familienmitglieder als Sklaven abgestellt. Schuldknechtschaft bzw. Sklaverei waren im ‚alten Tibet‘ gang und gäbe. … Der Rechtsapparat war durchzogen von Willkür und Korruption. Über entsprechende Bestechungsgelder war alles, ohne gar nichts zu erreichen.“ (ebenda, S. 24)

Zur Rechtfertigung dieser theokratischen Diktatur diente die buddhistische Karmalehre, nach der die soziale Stellung eines Menschen Produkt angehäufter Verdienste oder Verfehlungen im vorigen Leben war. Sowohl die Mächtigen (d.h. die Priester) als auch die Ohnmächtigen (die Bauern) hatten also ihr Schicksal verdient.

Das tibetische Strafrecht entsprang einem Gesetzeswerk des Dschingis Khan aus dem 13. Jahrhundert und war durch extreme Grausamkeit gekennzeichnet. Beispiele:

„Im ‚alten Tibet‘ durfte eine Frau bei Ehebruch legal von ihrem Ehemann getötet werden. … Zu dem bis weit in das 20. Jahrhundert hinein üblichen Strafmaßnahmen zählten öffentliche Auspeitschung, das Abschneiden von Gliedmaßen, das Herausreißen der Zunge, Ausstechen der Augen, das Abziehen der Haut bei lebendigem Leibe und dergleichen. Zu den leichteren Strafen zählte das Abschneiden der Oberlippe. Unbotmäßige Frauen wurden vielfach strafvergewaltigt, anschließend wurde ihnen die Nase abgeschnitten.“(ebenda, S. 25 ff).

In den buddhistischen Klöstern wurde regelmäßig gefoltert (!). Jedes Kloster verfügte über eine eigene Folterkammer und Spezialisten mit eigens entwickelten Werkzeugen zum Beispiel zum Herausziehen der Gedärme bei lebendigem Leib. Da dem Buddhisten das Töten untersagt war, wurden ihre Opfer bis nahe an den Tod heran gefoltert und dann ihrem Schicksal überlassen, so dass sie an den Folgen der Folter starben, was dann zu ihrem „karmisches Schicksal“ erklärt wurde.

Auf Basis dieser gewalttätigen Diktatur der Lamas wurden prachtvolle Klöster und Paläste errichtet. Das Kloster Drepung bei Lhasa beispielsweise verfügte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über einen gigantischen Grundbesitz, der von 25.000 Leibeigenen und 16.000 unfreien Hirten bewirtschaftet wurde. Der Potala, die Winterresidenz des Dalai Lama, verfügte über mehr als 1000 Räume und stellt damit einen der größten Prachtbauten dar, der jemals für einen Herrscher errichtet wurde.

Wer mehr darüber erfahren möchte, kann z.B. das Buch von Colin Goldner lesen: „Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs„, Alibri-Verlag Aschaffenburg, 3. Auflage 2008.

Werner Eberwein