Wie arbeitet man mit „Schreibabies“?

In seinem Buch „Emotionelle Erste Hilfe: Bindungsförderung – Krisenintervention – Eltern-Baby-Therapie“ (Leutner-Verlag 2008) beschreibt der Bremer Psychologe und Körperpsychotherapeut Thomas Harms die Theorie und Praxis des „Rebonding“ zur Arbeit mit „Schreibabies“ und deren Eltern. Thomas Harms ist Leiter des Zentrums für primäre Prävention (ZePP) in Bremen und Vorsitzender der Wilhelm-Reich-Gesellschaft. Er hat den Sammelband „Auf die Welt gekommen: Die neuen Baby-Therapien“ (Leutner-Verlag, 2000) herausgegeben.

Die wichtigsten Quellen dieser Sicht- und Arbeitsweise sind (unter vielen anderen):

·         die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth,

·         die Säuglingsforschung von Rene Spitz und Daniel Stern,

·         die körperpsychotherapeutische Säuglingsarbeit von Wilhelm Reich und Eva Reich,

·         die Traumatherapie nach Peter Levine.

Was sind „Schreibabys“?

Unter einem „Schreibaby“ versteht man einen Säugling, der exzessiv viele Stunden am Tag und/oder in der Nacht schreit und sich durch herkömmliche Angebote nicht beruhigen lässt, ja Angebote von Nähe durch Halten, Berührung, Blickkontakt, liebevoller Ansprache usw. abwehrt und ablehnt. Die Eltern von Schreibabys fühlen sich dem in der Regel auf Dauer nicht gewachsen. Sie reagieren mit Erschöpfung, Angst und Ratlosigkeit, verkrampfen sich und verlieren ihr Selbstvertrauen in Bezug auf den Umgang mit dem Baby. Ihre volle Aufmerksamkeit ist in der Regel auf das Baby gerichtet, und sie verlieren die Aufmerksamkeit für sich selbst. Ihre Angst führt zu erhöhter Motorik, Anspannung, Enge im Herzen und Blockierung vor allem der Bauchatmung.

Ursache und Folge ist eine Störung oder der Verlust der Bindung und der wechselseitigen Abstimmung mit dem Baby. Die Bindungspersonen (in der Regel die Eltern) fühlen sich ohnmächtig und überfordert, hilflos, wütend und enttäuscht, was durch Perfektionsansprüche und ungelöste Traumatisierungen auf Seiten der Eltern ausgelöst und verstärkt werden kann. In der Zuspitzung kann dies zu Wut-und Hassreaktionen, sowie zu destruktiven Fantasien und Impulsen (oder sogar Handlungen) dem Baby gegenüber führen.

Was ist „Bindung“?

Unter Bindung versteht man nach der Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth ein eigenes Motivationssystemen, dass aus einem Bedürfnis nach Nähe, Geborgenheit und Sicherheit, sowie nach einer tragfähigen und Sicherheit spendenden Beziehung und emotionaler Verfügbarkeit besteht. Sie führt bei dem Baby und seinen Bindungspersonen zu körperlicher Entspannung und Beruhigung.

Eine gut funktionierende Bindung zum Säugling setzt feinfühlige emotionale Abstimmung voraus. Das bedeutet, dass die nonverbalen Signale des Babys angemessen wahrgenommen und richtig gedeutet werden, und dass die Bindungspersonen darauf schnell und angemessen reagieren. Dies wiederum setzt einen entspannungsfähigen Organismus auf Seiten der Bindungspersonen voraus. Sie haben für das Baby eine „Leuchtturmfunktion“ (Harms), die diesem hilft, seine Affekt-und Erregungszustände zu modellieren und sich zu beruhigen.

Ein gut gebundenes Baby pendelt flexibel zwischen Phasen von In-sich-Ruhen und Welt-Exploration, wobei es zeitweise Trance-artige Zustände von Verbundenheit mit der Welt, mit sich selbst und mit den Bindungspersonen erlebt.

Was ist eine Bindungsstörungen?

Eine Bindungsstörungen entsteht und wird aufrecht erhalten durch eine „negative Gegenseitigkeit“ („Teufelskreis“) zwischen dem Baby und seinen Bindungspersonen auf dem Weg der psychovegetativen Resonanz. Sie kann durch unverarbeitete Traumata der Bindungspersonen und/oder des Babys ausgelöst und verstärkt werden. Besonders relevant sind hier Traumata während oder unmittelbar nach der Geburt oder während der Schwangerschaft.

Weitere Stressbelastungen können z.B. entstehen durch:

  • ungelöste Beziehungsprobleme der Eltern,
  • ökonomische Not,
  • unverarbeitete Fehlgeburten,
  • überwältigende Geburtserfahrungen,
  • abrupte und länger anhaltende Trennungen nach der Geburt (z.B. aufgrund von Frühgeburtlichkeit des Kindes).

Das Schreien des Säuglings kann dabei traumatische Flashbacks der Bindungsperson/en auslösen. Die Babys selbst drücken ihre traumatischen Erfahrungen nonverbal aus, zum Beispiel durch Bewegungen oder Selbstberührungen am Körper an Körperregionen, die mit dem Trauma assoziiert sind.

Geschwächte Bindung

Wenn die Bindungen zwischen der Bindungsperson und dem Baby geschwächt ist, entsteht Stress. Sowohl die Bindungsperson, als auch (verbunden durch Prozesse der psychovegetativen Resonanz) das Baby, erleben Gefühle des Bedrohtseins, der Unsicherheit, Orientierungslosigkeit  und Unverbundenheit. Beide gelangen in einen Stress- und Alarmmodus, also in eine sympathikotone Erregung, Angespanntheit und Überaktivität. Es entsteht eine ständige „Hab-Acht-Haltung“ und eine emotionale Entfremdung zwischen dem Kind und den Bindungspersonen.

Häufig flüchten sich die Bindungspersonen dann hilflos in Ersatzaktivitäten, die vor allem aus Dauerstimulation des Säuglings zur Beruhigung (z.B. dauerndem Stillen, Herumtragen, akustische Stimulation, im Auto herumfahren usw.) besteht. Dieser „blinde Aktionismus“ (Harms) führt früher oder später zu einem Burn-Out auf Seiten der Bindungspersonen und zu einer weiter verringerten Empathie („Mitschwingen“) mit dem Baby.

Zusammenbruch der Bindung

Wenn die Bindungen zwischen der Bindungsperson und dem Baby zusammenbricht, entsteht ein Zustand der Erstarrung im Wechsel mit Panik. Durch den Verlust des Kontaktes der Bindungsperson zu sich selbst, besonders zu ihren eigenen Körperempfindungen (ihrer „Selbstanbindung“), kommt es zu dissoziativen Episoden, die als Halt- und Bodenlosigkeit, ja als lebensbedrohlich erlebt werden. Die Bindungsperson fühlt sich denk-, fühl- und handlungsunfähig, taub, gelähmt oder benommen. Ihr geht die Fähigkeit zur emotional Emotionsregulation (insbesondere die Fähigkeit sich selbst zu spüren und zu beruhigen) verloren. Dadurch verliert sie die Fähigkeit, die Signale (zum Beispiel das Schreien) des Babys in seiner Bedürfnisbedeutung zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren.

Für das Baby bedeutet das, dass sein emotionales „Haltesystemen“ verloren geht, und es fällt ins Bodenlose. Es kann eine „chronische Immobilisation“ entstehen, also eine Erstarrung oder Schocklähmung. Das Baby wechselt zwischen Rückzug, Vermeidung von Blickkontakt und Berührung im Wechsel mit panischem Sich-Anklammern und unaufhörlichem, verzweifelten und lautstarken Schreien.

Wie arbeitet man mit Schreibabys und deren Bindungspersonen?

Das Prinzip der Arbeit mit Schreibabys und ihren Bindungspersonen besteht in der Stärkung der Bindungsressourcen beider („Rebonding“). Die Stärkung der Verwurzelung der Bindungspersonen in ihrem eigenen Körper und ihren eigenen emotio-vegetativen Grundrhythmen sowie der der Abstimmung zwischen den Bindungspersonen und dem Baby führt zu einem Rebonding mit dem Baby mit der Folge, dass es sich – mitunter innerhalb von wenigen Minuten – beruhigt.

„Die Nähe zum Kind ist nur dort möglich, wo die innere Verbindung zum eigenen Körper vorhanden ist.“ (Thomas Harms“)

Die „Selbstanbindung“ (d.h. die Verwurzelung der Bindungsperson in ihren eigenen Körperempfindungen, Intuitionen und Impulsen) stärkt ihre Fähigkeit, empathisch zu erfassen, was das Baby braucht. Eine Voraussetzung dafür ist die Verlangsamung ihres inneren Tempos:

„Gut regulierte Babys sind von sich aus langsam und begnügen sich mit wenig Neuem. …
… Wer die Sprache der Babys sprechen will, muss langsam werden.“ (Thomas Harms)

Es wird daher empfohlen, dass berufstätige Bindungspersonen nach der Arbeit zunächst eine gewisse Pufferzeit einlegen, um sich tempomäßig auf die Geschwindigkeit des Babys herunterzutunen.

Die Stärkung der Selbstanbindung verbessert den Reizfilter und die Abgrenzungsfähigkeit der Bindungsperson, auch gegenüber dem Baby („psychischer Immunschutz“). Eine „Symbiose“ (im Sinne eines Zerfließens der Grenzen) zwischen Bindungspersonen und dem Baby ist dagegen ein Zeichen mangelnder Abgrenzung und daher auch einer geschwächten Bindung. Vielmehr ist eine Differenzierungen des Selbstempfindens in Verbundenheit, also ein „Selbst mit anderen“ (Daniel Stern) erforderlich.

Spezifische Techniken

  • „Selbstanbindung“: Der Therapeut lenkt die Aufmerksamkeit der Bindungsperson auf eine achtsame Verbindung mit ihren Körperempfindungen, inneren Rhythmen und Impulsen. Dabei wird die Aufmerksamkeit der Bindungsperson (zunächst kontra-intuitiv) vom Baby weg und hin zum eigenen Körper gelenkt. Der Therapeut leitet die Bindungsperson zu einem „Body-Scan“ (Kabat-Zinn), d.h. zu einem Spüren des Körpers von innen, wodurch die Bindungsperson vom „Außer-sich-Sein“ weg und zu-sich-hin kommt und sich in ihrer Selbstwahrnehmung „erden“ kann.
  • Haltgebende Berührung: Der Therapeut bittet die Bindungsperson, präzise zu benennen, wo und auf welche Weise sie berührt werden möchte, um ein Gefühl von Halt und Sicherheit durch den Therapeuten zu empfinden. Dies gibt der Bindungsperson unmittelbar und nonverbal Trost und Beistand sowie das Gefühl, nicht allein zu sein, was häufig unmittelbar zu einer sicht- und spürbaren Entlastung führt und gleichzeitig für die Bindungsperson ein Modell für haltgebende Berührungen für das Baby sein kann.
  • Bauchatmung: Der Therapeut leitet die Bindungsperson an, sich auf ihre Bauchatmung zu fokussieren bzw. bewusst in den Bauch zu atmen, was zu einer unmitttelbaren Entspannung des Zwerchfells führt. Während das Baby auf dem Bauch der Bindungperson liegt, solle diese in der Einatmungsphase „zu dem Baby hin atmen“ was das Gefühl der Verbindung zum Baby stärkt und die Bindungsperson und das Baby entspannt.
  • „Sicherer Ort: Um aus akuten traumatischen Reaktionen herauszufinden, leitet der Therapeut die Bindungsperson an, sich zu einem „sicheren Ort“ im Inneren ihres Körpers zu begeben und/oder sich an eine Phase guter Gebundenheit mit dem Baby zu erinnern und diese imaginativ emotio-vegetativ wiederzuerleben.
  • „Dissoziiertes Erinnern“: Eine weitere Möglichkeit der therapeutischen Dissoziation ist das dissoziierte Erinnern traumatischer Situationen („sehen ohne zu fühlen“) was der Bindungsperson ermöglichen kann, traumatische Situationen in Begleitung des Therapeuten zu verarbeiten, wobei das (dabei in der Regel anwesende) Baby oft unmittelbar psychosomatisch darauf reagiert.
  • „Innere Helfer“: Der Therapeut leitet die Bindungsperson an, „innere Helfer“ zu imaginieren, die sie dabei unterstützen können, in sich zu ruhen und mit dem Baby gut verbunden zu sein. Dies können z.B. reale oder imaginierte Personen, aber auch Symbole, Naturkräfte oder spirituelle Entitäten sein.
  • „Stop“-Technik: Der Therapeut unterbricht auf behutsame Weise das „Selbst-Triggern“ von Stressreaktionen durch die Bindungsperson und bittet sie, zum Selbst-Bonding und zu Bindungs-Imaginationen zurückzukehren.
  • „Schmetterlingsmassage“: Eine spezielle, von Eva Reich entwickelte Massage für Babys und deren Bindungspersonen, die aus sehr sanften, „schmetterlingsartigen“ Berührungen besteht.

Werner Eberwein