Was ist eine Auseinandersetzungskultur?

Eine Auseinandersetzungskultur ist die Fähigkeit von Menschen, sich mit sich selbst und mit anderen Menschen in einem respektvollen, konstruktiven, aber auch kritischen Dialog aufeinander zu beziehen in dem fortgesetzten Versuch, einander zu verstehen, sich selbst zu verstehen, dem anderen sich selbst mitzuteilen, das eigene vom anderen zu unterscheiden, aber auch das eigene mit dem anderen in Bezug zu setzen.

Was im optimalen Fall daraus entsteht, ist ein respektvoller, demokratischer Dialog, der Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede herausarbeitet, unterschiedliche Sichtweisen miteinander in Beziehung setzt, Differenzen verdeutlicht und gemeinsame Optionen eröffnet.

Wenn Auseinandersetzungen fehlschlagen, dann entstehen Missverständnisse, Aneinander-Vorbeireden, Einander-Beschuldigen, Anklagen, sich in sich selbst Verschließen, Verschweigen, Vertuschen, Intrigieren, Macht- oder sogar Vernichtungskämpfe.

Eine Kultur der demokratischen Auseinandersetzung ist der Weg heraus aus der Vereinzelung und Vereinsamung des Menschen hin zu einem lebendigen Miteinander, in dem jeder einzelne in seiner Besonderheit seinen Platz findet und haben kann. Gleichzeitig ist sie die Alternative zu feindseligen oder gar kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen es um Dominieren, Beiseiteschieben, Aushebeln, Überwältigend oder Beseitigen des anderen (oder der eigenen Person) geht.

Eine demokratische Auseinandersetzung (gelegentlich auch bezeichnet als Diskurs oder Debatte, Diskussion oder Dialog) ist schwierig, wie eben Demokratie sowieso schwierig ist, wie Winston Churchill einmal sagte: „Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, abgesehen von allen anderen.“

Das tiefste Bedürfnis jedes Menschen an andere Menschen ist das Bedürfnis, gesehen, respektiert, anerkannt und verstanden zu werden. Oft kämpft man um Interessendifferenzen, die nie beigelegt werden könnten, und für die es auch keine gangbaren Kompromisse gibt. Wenn in einer Partnerschaft ein Partner gerne Kinder hätte, der andere aber nicht, so ist kein Kompromiss, kein Mittelweg denkbar. Ein solcher Konflikt kann eine Beziehung zerreißen. Er kann auch dazu führen, dass ein Partner den anderen auf die eine oder andere Weise dominiert:

  • Die Frau vergisst „versehentlich“, die Pille zu nehmen, oder dem Mann rutscht „versehentlich“ das Kondom herunter, und wie der Zufall so will entsteht unbeabsichtigt eine Schwangerschaft.
  • Einer der Partner lässt sich sterilisieren, ohne dass der andere davon weiß oder damit einverstanden ist.
  • Ein Partner setzt den anderen unter Druck: „Wenn du dich nicht auf eine Familie einlassen möchtest/wenn Dir Kinder wichtiger sind als ich, bist du nicht die/der richtige für mich.“
  • Ein Partner entwickelt Angst vor Sexualität, oder die erotische Anziehung verschwindet, um der „Gefahr“ einer Schwangerschaft zu entgehen.

Beabsichtigte und scheinbar unbeabsichtigte Manöver dieser Art gibt es viele, die alle darauf hinauslaufen, die eigene Position durchzusetzen, die man als berechtigt und existenziell drängend empfindet. Jedoch: Selbst wenn dem einen gelingt, den anderen zu überwältigen und sich durchzusetzen, besteht die Gefahr, dass daraus nichts Gutes entsteht (obwohl auch das passieren kann).

Wie geht man mit Differenzen um, die einander ausschließen, wo es scheinbar nur den einen oder den anderen Weg gibt: Entweder der eine setzt sich durch, oder der andere, oder die beiden gehen auseinander?

Fragestellungen dieser Art gibt es auch zwischen Eltern und Kindern, in Verbänden, in der Politik, ja sogar zwischen Staaten, Religionen oder Militärbündnissen. Seit Jahrhunderten ist beispielsweise der Tempelberg in Jerusalem sowohl für Juden, als auch für Christen als auch für Muslime ein zentraler heiliger Ort. Jede dieser drei Weltreligionen (und im Grunde sind alle drei ziemlich kriegerisch) möchte den Tempelberg für sich besitzen. Wie ist das lösbar? An Fragen dieser Art können sich Kriege entzünden, die ganze Weltregionen in Brand setzen.

Manche dieser Konflikte sind derart alt und aufgeladen, dass ein konstruktiver Dialog unmöglich erscheint. Besonders kritisch wird das, wenn auch eine Trennung unmöglich ist, wie bei dem Beispiel des Tempelberges. Das gibt es auch im Persönlichen, zum Beispiel wenn ein Paar gemeinsame Kinder oder einen hohen Kredit für einen Hausbau laufen hat. In solchen Fällen ist es nur schwer möglich, komplett getrennte Wege zu gehen. Es besteht ein Zwang, miteinander klarzukommen, der im positiven Fall zu einem akzeptablen oder sogar harmonischen Arrangement führt, im negativen zu einem lebenslangen bzw. jahrhundertelangen Kleinkrieg oder gar zu einem Vernichtungsfeldzug

Das Thema findet sich im Zwischenmenschlichen auch im allerkleinsten, ja in jedem Moment einer sozialen Interaktion. Eine gute Bekannte von mir, die ich schon seit Jahrzehnten kenne, ist ein liebenswerter Mensch, aber sie hat eine zwanghafte Struktur. Wir treffen uns gelegentlich, um miteinander im Park spazieren zu gehen. Ich weiß inzwischen, dass Sie den Weg, den wir dabei nehmen, inklusive der Bank, auf die wir uns zwischendrin setzen oder die Wiese, auf der wir eine Rast machen, schon zu Beginn des Spazierganges fix und fertig im Kopf hat. Wenn ich versuche, von ihrem Spaziergangsplan abzuweichen, ist sie irritiert. Es kann sogar sein, dass sie ärgerlich wird und anfängt zu argumentieren, warum gerade diese Bank oder diese Wiese oder dieser Weg jetzt der richtige ist und alles andere eine blöde Idee.

Was soll ich tun? Ich könnte sie den Weg einfach bestimmen lassen, und oft genug habe ich das getan, weil es mir im Grunde egal ist, auf welchem Weg wir durch den Park spazieren. Aber im Laufe der Zeit fühle ich mich wie an einem Gängelband, und auf Dauer nervt das. Ich könnte versuchen, mich einfach durchzusetzen, und auch das habe ich gelegentlich getan, was zu seltsamen Irritationen und unangenehmen Stimmungen führte. Ich könnte versuchen, mit ihr über das Thema zu reden, was aber schwierig ist, weil wir ihr zwanghaftes Muster, obwohl von außen unübersehbar, selbst nicht bewusst ist.

Für eine Situation dieser Art gibt es kein Drei-Schritte-Rezept, das man nur abzuarbeiten bräuchte, um eine konstruktive Lösung zu erreichen. (Genau genommen gibt es eine unübersehbare Vielfalt solcher Rezepte, die aber alle nur begrenzt funktionieren. Wenn eines davon wirklich funktionieren würde, bräuchte es nur dieses, und alle anderen wären überflüssig.) Jedenfalls wäre es auf Dauer keine gute Lösung, wenn meine Bekannte oder ich sich einfach durchsetzt und den anderen quasi hinter sich herschleift. Es fühlt sich auf die Dauer auch nicht besonders gut an, sich einfach anzupassen und den Vorstellungen des anderen zu folgen. Einen wilden Streit vom Zaun zu brechen, die andere Person der Verständnislosigkeit, des Egoismus oder der Rücksichtslosigkeit anzuklagen wäre wohl auch keine gute Idee.

Es braucht eine Form der respektvollen, solidarischen, aber auch kritischen Auseinandersetzung, wobei die Frage, wann, auf welche Art und wie man einen Einstieg bzw. Zugang zu einer solchen Auseinandersetzung findet, bereits ein zentraler Teil dieses Prozesses ist. Sowohl man selbst als auch die andere Person ist nicht in jedem Moment bereit zu einem solchen Gespräch. Andererseits kann das Signalisieren von Unwillen oder der Satz „Ich möchte jetzt darüber nicht sprechen“ leicht dazu führen, den Konflikt zu ignorieren, mit dem Effekt, dass ein untergründiger Kleinkrieg beginnt.

Eine Kultur der Auseinandersetzung setzt voraus, anzuerkennen, dass der andere Mensch anders ist als ich, obwohl wir in unseren grundlegenden Bedürfnissen ähnlich sind. Menschen sind soziale Wesen, auf andere Menschen bezogen und auf sie angewiesen. Ich mag die Gespräche mit meiner Bekannten. Ich finde es schöner, mit ihr im Park spazieren zu gehen, als ohne sie, aber es nervt mich, von ihr gegängelt zu werden.

Auseinandersetzung bedeutet zunächst, miteinander einen Zugang zu dem Thema zu finden, der es beiden ermöglicht, die eigene Befindlichkeit zu verdeutlichen, sich dem anderen mitzuteilen, die Bedürfnisse, Wünsche und Eigenarten des anderen anzuerkennen, Unterschiede herauszuarbeiten, den Konflikt offen dazulegen, die Unterschiede der Sichtweisen herauszuarbeiten und darauf zu vertrauen, dass aus diesem Prozess heraus eine Entwicklung entsteht, die die Verbindung beider miteinander verstärkt und ihre Beziehung befruchtet. Das klingt vielleicht wie eine monatelange, zähe Diskussion, es kann aber auch in einem beiläufigen, schmunzelnden Gespräch stattfinden das nur wenige Minuten dauert.

Das Prinzip einer demokratischen Auseinandersetzung ist das Wechselspiel zwischen Empathie und Selbstempathie, zwischen

  • Sich-in-den-anderen-Einfühlen und Ihn-verstehen-Wollen im Anerkennen der Andersheit des anderen

im Wechselspiel mit

  • dem Einfühlen in die eigene Person und dem Mitteilen der eigenen Befindlichkeit im Anerkennen der Individualität der eigenen Person.

Die Auseinandersetzung mit dem anderen geht einher mit einer Auseinandersetzung mit sich selbst und zugleich mit der Auseinandersetzung mit Themen wie Macht und Ohnmacht, Kontrolle und Loslassen, Respekt und Selbstachtung, Zuwendung und Abgrenzung. Wie sich dieser Prozess entwickelt, was daraus entsteht, wie er weitergeht, ob daraus eine Lösung entsteht oder nur eine Klärung von Differenzen ist nicht vorherzusagen.

Werner Eberwein