Inwiefern ist die Körperpsychotherapie ein Teil der Humanistischen Psychotherapie?

Was wissenschaftliche Psychotherapie ist und welcher psychotherapeutische Ansatz zu welchem Verfahren zuzurechnen ist, entscheidet auf der bürokratischen Ebene zur Zeit der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP), der mit je 6 Vertretern der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer besetzt ist. Wenn ein Psychotherapieverfahren vom Beirat als wissenschaftlich anerkannt ist, kann es Approbationsausbildungen zum Psychotherapeuten anbieten. Wenn man die Terminologie des Wissenschaftlichen Beirats zugrunde legt, gibt es zur Zeit in Deutschland vier psychotherapeutische „Verfahren“:

  • das Psychodynamische,
  • das Behaviorale,
  • dass Systemische und
  • das Humanistische Verfahren.

Unter einem „Verfahren“ versteht der WBP einen psychotherapeutischen Ansatz, der in allen 5 relevanten Anwendungsbereichen von Psychotherapie seine Wirksamkeit – nach den selbstgesetzten Kriterien des Beirats – durch RCT-Studien nachgewiesen hat oder noch nachweist (diese Kriterien sind in der Fachwelt höchst umstritten). Nur „Verfahren“ in diesem Sinne dürfen nach der Interpretation des WBP Ausbildungen anbieten, die zu einer Approbation zum Psychotherapeuten führen, und die dann wiederum vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zur Kassenfinanzierung zugelassen sind bzw. einen Antrag auf Kassenfinanzierung stellen dürfen. Innerhalb jedes dieser Verfahren werden dann „Methoden„, und innerhalb dieser wiederum spezifische „Techniken“ unterschieden.

Die Unterscheidung zwischen diesen „Verfahren“ sowie die Notwendigkeit für psychotherapeutische Ansätze, sich diesen ein-eindeutig zuordnen zu müssen, entspricht weder den aktuellen internationalen Gepflogenheiten noch den Diskussionen der Scientific Community oder den historischen Entwicklungen der Psychotherapie. Sie wird den psychotherapeutischen Ansätzen auf bürokratische Weise von WBP und GBA aufgezwungen, wenn sie in die Möglichkeiten von Approbationsausbildung und Kassenfinanzierung kommen wollen.

Übernahmen und Driftbewegungen

In den letzten Jahren sehen wir zunehmend großräumige theoretische und praktische Übernahmen und Driftbewegungen innerhalb der und zwischen den psychotherapeutischen Verfahren. Einer dieser Drifts besteht darin, dass sich die „Richtlinienverfahren“ (die schon über die Krankenkassen abrechnen können) essenzieller Bestandteile der Humanistischen Psychotherapie bedienen und diese häufig als eigene Entwicklungen ausgeben, ohne die historischen Quellen bei den Vertretern der Humanistischen Psychologie und Psychotherapie zu benennen.

  • Das psychodynamische Verfahren kommt ursprünglich aus der Psychiatrie. Es ist historisch aus der Freud’sche Psychoanalyse mit ihrer (biologistischen) Triebtheorie entstanden. In den psychodynamischen Richtungen ist in den letzten Jahren eine vor allem in den angelsächsischen Ländern „intersubjektive Wende“ zu verzeichnen, die im Kern darin besteht, die dialogische Orientierung – ursprünglich ein Kernaspekt der Humanistischen Psychotherapie – zu übernehmen und als Eigenentwicklung auszugeben ohne ihre Quellen z.B. bei Jacob Moreno, Carl Rogers, Fritz und Laura Perls u.a. anzugeben.
  • Das behaviorale Verfahren kommt ursprünglich aus der Tierverhaltensforschung an den Universitäten. Sein Ursprung waren die (ebenso biologistischen) Konditionierungstheorien nach Pawlow, Skinner und Watson. Auch in der Verhaltenstherapie findet zur Zeit in Form der so genannten „dritten Welle“ ein Drift in Richtung Humanistische Psychotherapie statt (z.B. in der ACT nach Hayes, der DBT nach Linehan, der CASPB nach McCullough u.v.a.), wobei auch hier die Quellen bei den Humanistischen Psychologen und Psychotherapeuten häufig nicht genannt werden.
  • Die Grundkonzepte des systemische Verfahrens stammen ursprünglich aus der Regelungstechnik und der Biologie. Es hatte seine Ursprünge in der Familientherapie. Zwischen ihm und der Humanistischen Psychotherapie bestand schon immer eine gewisse Verwandtschaft a) durch gemeinsame Wurzeln im Holismus und Feldtheorie, was sich u.a. durch die Betonung eines ganzheitlichen (bio-psycho-sozial-ökologischen) Menschenbildes äußert und b) durch den Ausschluss aus der Kassenfinanzierung.
  • In vielen Richtungen des Humanistischen Verfahrens (zum Beispiel in manchen Richtungen der Körperpsychotherapie, im Westküstenstil der Gestalttherapie und in der Encounter-Bewegung) wurde ursprünglich ein hochenergetisches, provokatives, kathartisches Vorgehen bevorzugt. In den letzten Jahrzehnten wurden dann vielfältige Formen der Arbeit mit Stabilisierung und Containment insbesondere für strukturgestörte und traumatisierte Patienten entwickelt.

Die Hauptbegründer der Gestalttherapie, Lore und Fritz und Lore Perls, waren ursprünglich Psychoanalytiker. Durch ihre teilweise schroffe Abgrenzung gegen die damalige Freud’sche Psychoanalyse (bei Übernahme mancher ihrer Grundkonzepte) gilt die Gestalttherapie inzwischen, gemeinsam mit der Personzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers, zum Urgestein des Humanistischen Verfahrens.

Auch die Körperpsychotherapie hat sich ursprünglich unter anderem aus der Psychoanalyse heraus entwickelt (Wilhelm Reich, neben Elsa Gindler der Hauptbegründer der psychotherapeutischen Körperarbeit, war ursprünglich Freud‘scher Psychoanalytiker). Daher haben viele ihrer Grundkonzepte psychodynamische Wurzeln (z.B. aufdeckende Arbeit an verkörperten Abwehrprozessen). Manche ihrer Konzepte sind von ihrer Herkunft her heute noch immer biologistisch gefärbt, an der Freud’schen Triebtheorie orientiert und überfokussieren die Sexualität (z.B. die Idee des frühen Wilhelm Reich, dass psychische Gesundheit primär durch die Befreiung des Sexualtriebes aus den Fesseln der Moral erlangt weden könne), andere arbeiten mit einer physikalistischen Begrifflichkeit (z.B. „Panzerung“, „Energiefluss“) oder mit homöostatischen Motivationskonzepten. Darüber hinaus sind in manchen Richtungen der Körperpsychotherapie explizite oder implizite esoterische Konzepte verbreitet, wie sie vor allem vom späten Wilhelm Reich vertreten wurden, die aber wissenschaftlich nicht verifiziert werden konnten (z.B. „kosmische Lebensenergie“, „Aura“, „Orgon“, „Plasmafeld“, „Astralfeld“ u.ä.). Dennoch versteht sich die Körperpsychotherapie als Ganzes im Sinne der Terminologie des WBP heute als Teil des Humanistischen Verfahrens.

Das Humanistische Menschenbild

Es gibt in der Psychotherapie keine „Alleinstellungsmerkmale“. Nahezu jedes Konzept, jede Überlegung, Reflexion, Technik usw. einer Richtung der Psychotherapie wird irgendwo in jeder anderen Richtungen der Psychotherapie auch von irgend jemandem vertreten, adaptiert, variiert oder implizit praktiziert. Jedes Basiskonzept innerhalb eines Verfahrens wird von irgendwelchen Vertretern des selben Verfahrens kritisiert, bestritten, anders definiert oder anders angewandt. Die einzelnen Richtungen, so auch die großen „Verfahren“ der Psychotherapie unterscheiden sich (entgegen der atomisierenden Vorgaben des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie) also nicht auf ausschließende Weise, sondern lediglich in ihren Schwerpunktsetzungen.

Die Humanistische Psychotherapie zeichnet sich was ihr Menschenbild betrifft besonders dadurch aus, dass sie herausgearbeitet hat und betont, was am Menschen spezifisch menschlich ist, was also über das bloß-animalische bzw. biologisch-homöostatische hinausgeht.

Natürlich erkennt die Humanistische Psychotherapie an, dass der Mensch auch ein Tier ist, also von seiner genetischen und biosozialen Ausstattung her über dieselben biologischen Merkmale verfügt wie insbesondere die höheren Menschenaffen. Auch wir Menschen müssen atmen, Essen, schlafen, wir brauchen Wärme, Schutz vor den Naturgewalten, pflanzen uns fort, leben in sozialen Gemeinschaften usw., wobei allerdings all diese Bedingungen durch die spezifische Menschlichkeit des Menschen überformt und teilweise relativiert werden kann. So ist beispielsweise weder die Fastenzeit, noch die Tätigkeit eines Fünf-Sterne-Kochs, noch eine pathologische Essstörung durch einen animalischen Hungertrieb erklärbar. Ebenso sind die historischen und sozialen Varianten, Normen und Tabus der Sexualgepflogenheiten, die sexuelle Abstinenz in manchen religiösen Gemeinschaften oder die Aufhebung sexueller Normen währen bestimmter Feste oder in bestimmten Lokalitäten nicht mit einem animalischen Sexualtrieb erklärbar.

Der Mensch ist also auch ein Tier, aber ist wesentlich mehr als ein Tier. Spezifisch menschliche Eigenschaften wären zum Beispiel:

  • die Wahlfreiheit des menschlichen Willens, die die soziale Verantwortung nach sich zieht, der man nicht entrinnen kann,
  • die Wahrnehmung von Bedeutungssystemen, nicht bloß von physikalischen „Dingen“, „Objekten“ oder „Reizen“,
  • die Bewußtheit über die eigenen Befindlichkeiten und das eigene Handeln mit seinen sozialen Konsequenzen,
  • die Fähigkeit zur Reflexion und Metareflexion, also die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und auch die Art des Beobachtens wiederum zu reflektieren,
  • das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, das wir allen anderen Wesen voraus haben, das unweigerlich Fragen nach dem Sinn und der Bestimmung des Lebens nach sich zieht,
  • die Orientierung an Sinn und Werten,
  • Gesellschaft, Geschichtlichkeit, Kultur, Wissenschaft und Kunst.

Auch die menschliche Motivation ist weder allein durch biologische Triebe noch allein durch Konditionierungsprozesse (die es ja auch bei Tieren schon gibt) erklärbar. Spezifisch menschliche Motivationen wären zum Beispiel:

  • das Selbstverwirklichungsstreben, die Aktualisierungstendenz, das Bedürfnis nach Potenzialentfaltung,
  • das Bedürfnis nach personaler Begegnung, Austausch und Intimität,
  • das Bedürfnis nach Sinnerfülltheit.

Spezifisch menschliche Fähigkeiten wären zum Beispiel:

  • die Kritik, Reflexions- und Distanzierungsfähigkeit,
  • die Fähigkeit zur Metareflexion (z.B. in Wissenschaft, Philosophie und Journalismus),
  • die Mentalisierungsfähigkeit zu Dialog, Begegnung, Empathie und Selbstempathie, Reflexion eigener und fremder psychischer Prozesse,
  • das Sich-Einsetzen für bzw. gegen etwas, das Sich-Auseinandersetzen mit etwas,
  • Kreativität und Gestaltungskraft,
  • eine differenzierte Sprache und differenzierte Symbolsysteme wie beispielsweise Mathematik, Schrift oder Programmiersprachen.

Schwerpunkte des „Verfahrens“ Humanistische Psychotherapie

Auch was die praktische Arbeitsweisen der Psychotherapie betrifft, gibt es keine „Alleinstellungsmerkmale“. Praktisch alle Methoden und Techniken, die in einem Ansatz der Psychotherapie praktiziert werden, werden von irgend einem Vertreter oder in irgend einer Richtung jedes anderen Ansatzes der Psychotherapie auch vertreten, praktiziert oder adaptiert. Innerhalb eines Verfahrens wiederum wird jede beliebige Technik auch kritisiert, gilt als überholt, unangebracht oder kontraproduktiv. Wir können daher, auch was die Arbeitsweisen und Grundkonzepte der Humanistischen Psychotherapie in der Praxis betrifft, nur von Schwerpunkten sprechen, die in der Humanistischen Psychotherapie besonders betont oder besonders entwickelt (und wie gesagt, teilweise von den Richtlinienverfahren angeeignet und als Eigenentwicklungen erklärt) wurden. Dazu zählen:

  • die professionell-intersubjektive (dialogische) „Arbeit in der Beziehung“,
  • Potenzialorientiertheit und Ressourcenaktivierung (was inzwischen in praktisch allen psychotherapeutischen Richtungen vertreten und dort oft als Eigenentwicklung ausgegeben wird, ursprünglich aber ein Essential der Humanistischen Psychologie und Psychotherapie und in anderen Richtungen zunächst völlig unbekannt war),
  • die Reflexion von und die Orientierung auf existenziellen Sinn und Werte,
  • eine integrative Einstellung, also eine Bereitschaft, vielfältige, auch neue Konzepte, Methoden und Techniken zu integrieren, d.h. sie auf Basis eines Humanistischen Menschenbildes anzuwenden,
  • eine experimentelle, spielerische Haltung, in der Neues ausprobiert werden kann, so dass auch nie gegangene Wege erkundet werden können,
  • Erfahrungsorientiertheit, Erlebnisaktivierung und Emotionsfokussierung,
  • das Fördern von Gewahrsein und Achtsamkeit, Empathie und Selbstempathie, also von Mentalisierung.

In der Praxis der Körperpsychotherapie werden meines Erachtens all diese Essentials der Humanistischen Psychotherapie realisiert. Die Körperpsychotherapie befindet sich in einem historischen Drift aus einer eher psychodynamischen Orientierung (bei Beibehaltung entsprechender Wurzeln) hin zum Humanistischen Verfahren, wobei die Philosophie, Basiskonzepte und Methodik der Humanistischen Psychotherapie in der Körperpsychotherapie noch lange nicht voll integriert und entwickelt sind (was aber auf andere Ansätze der Psychotherapie in Bezug auf ihre jeweiligen aktuellen Basiskonzepte ebenso zutrifft). Nach meinem Eindruck ist die Körperpsychotherapie in der Theorie psychodynamischer als in der Praxis und in der Praxis humanistischer als in der Theorie.

Werner Eberwein